Unsere innere und äußere Beziehung zur Natur in der dunklen Jahreszeit pflegen
In den letzten Monaten des Jahres werden die Tage hier in Deutschland wieder kürzer, dunkler und kälter. Diese Zeit des Jahres kann sich für viele von uns so anfühlen, als hätten wir einen höheren Bedarf nach Stille, Schlaf und Introspektion, während wir im Sommer aktiver und spielerischer sind und unsere Energie mehr nach Außen gerichtet ist. Diese natürlichen Bedürfnisse können ein Spiegel der Jahreszeiten sein. So werden die wärmenden Sonnenstrahlen im Herbst weniger, das Laub fällt von den Bäumen und die Gaben der Natur können geerntet werden. Die Natur zieht sich ins Erdreich zurück, um sich auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln, damit sie im Frühjahr wieder blühen und die Früchte gedeihen können. Allerdings ist es schwer in unserer modernen Lebenswelt auf unsere jahreszeitlichen Bedürfnisse zu achten, besonders wenn wir das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung haben. In unserem Alltag, welcher durch eine zunehmende und ständige Erreichbarkeit und Beschleunigung geprägt ist, nehmen Emails, Deadlines und To-Do-Listen auf das individuelle Bedürfnis nach winterlichen Rückzug keine Rücksicht. Ganz im Gegenteil – zum Jahresende herrscht oft vorweihnachtlicher Stress, um bestimmte Projektmeilensteine, Hausarbeiten oder ein Projektantrag abzuschließen oder kurz vor knapp noch Weihnachtgeschenke zu kaufen.
Vielleicht können uns aber gerade in unserem modernen Leben alte Bräuche dabei unterstützen, den Wert der dunklen Jahreszeit für Besinnung und Rückzug wiederzuentdecken, um unsere Beziehung zu uns selbst und zur Natur zu stärken. Tatsächlich war der Übergang zur dunklen Jahreszeit in vergangenen Zeiten durch das Feiern bestimmter Bräuche, Rituale und Praktiken fest in den Gesellschaften verankert. Ein Beispiel sind die sogenannten Rauhnächte, die zwölf Nächte nach Weihnachten zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar. Die Rauhnächte bildeten in ganz Nordeuropa eine mystische Übergangszeit zwischen den Jahren, eine Zeit zwischen den Zeiten, in der man sagte, dass sich die Tore zu einer anderen Dimension öffnen und welche die Rückkehr der Seelen und das Erscheinen der Geister symbolisieren. Man glaubte, dass jede Rauhnacht für einen Monat im kommenden Jahr steht. Die erste Nacht steht beispielsweise für den Januar, die zweite für den Februar und so weiter. Daher hielten die Menschen nach Zeichen für das kommende Jahr Ausschau, wie etwa durch Traumdeutungen. Früher galten diese Nächte als etwas ganz Besonderes und die Menschen versuchten, nicht zu arbeiten, sondern Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen und Omen durch Orakel zu erkennen.
Ein weiteres wichtiges Datum, um sich wieder mit dem Rhythmus der Natur zu verbinden, ist Samhain, die Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November. Heute wird in dieser Nacht auch Halloween gefeiert. Samhain ist ein Fest keltisch-heidnischen Ursprungs, welches das Ende der Erntezeit und den Beginn des Winters einläutet. Ähnlich wie bei den Rauhnächten heißt es auch hier, dass während Samhain die so genannte Anderswelt offen ist, was bedeutet, dass die Seelen der Toten die Häuser ihrer Verwandten besuchen kommen. Daher war Samhain die Nacht, in der man sich mit seinen Ahn*innen verband, um ungelöste Probleme zu klären, sich zu versöhnen und um Beistand zu bitten. Sowohl während der Rauhnächte als auch zu Samhain gab es eine Reihe ähnlicher Bräuche und Rituale, die insbesondere darauf abzielten, böse Geister zu vertreiben. So wurden beispielsweise zu Samhain Speisen und Getränke vor die Tür gestellt, um Geister aus der Anderswelt zu besänftigen. Außerdem wurde mit Weihrauch oder kleinen Feuern im Freien aus den Häusern und Ställen geräuchert, um Dämonen zu vertreiben. Weitere Rituale, die wir heute noch kennen, sind das Sonnwendfeuer, mit denen das Ende des alten und der Beginn des neuen Jahres gefeiert werden. Das Feuerwerk zu Silvester symbolisierte früher auch die Vertreibung von Geistern durch Lärm.
Doch was können wir aus diesen Traditionen, Bräuchen und Ritualen lernen? Im Allgemeinen symbolisiert der Übergang zwischen Sommer- und Winterzeit einen Prozess des Loslassens und des Neuanfangs. Obwohl wir nicht mehr auf das Sonnenlicht angewiesen sind, indem wir einfach elektrisches Licht einschalten oder Sommerfrüchte auch im Winter genießen, hat der äußere Wechsel der Jahreszeiten auch Auswirkungen auf unsere innere Welt, wenn wir auf sie hören. Zum Beispiel können wir die dunkle Jahreszeit nutzen, um uns an unsere Abhängigkeit von und Verknüpfung mit der nichtmenschlichen Natur zu erinnern.
Wir können unsere Seele nähren und darüber nachdenken, wofür wir dankbar sind, oder Gepflogenheiten erkennen und verändern, die einem guten Leben für uns und alle Lebewesen nicht dienen. Besonders in Städten, die selten völlig dunkel sind, können wir uns mit Hilfe von Ritualen wieder mit der Dunkelheit und uns selbst verbinden, indem wir das Licht, den Computer oder das Smartphone ausschalten. Besonders in Zeiten der Ungewissheit, wie wir sie im Zuge der aktuellen COVID-19-Pandemie erleben, können uns Rituale unterstützen, um uns etwas Stabilität zu geben. Während des Lockdowns wurde uns die Bedeutung der städtischen Natur zur Erholung von Stress während der Pandemie sehr deutlich. Zudem verringerte die Pandemie auch die Möglichkeiten, dem europäischen Winterblues aufgrund von Reisebeschränkungen zu entkommen. Vielleicht sind Rituale in der heimischen Natur in der dunklen Jahreszeit sogar wichtiger denn je, um Orientierung und innere Verbundenheit in einer Welt zu finden, die manchmal aus den Fugen geraten zu sein scheint.
Als Beispiel für ein Ritual zur Begrüßung der dunklen Winterzeit in der Natur wird in diesem Blogbeitrag eine Despacho-Zeremonie, ein Ritual aus den hohen Anden Perus, vorgestellt. Dr. Alberto Villoldo, medizinischer Anthropologe und Gründer der Four Winds Society, erklärt eine Despacho-Zeremonie wie folgt: "Ein Despacho ist eine Gabe für die Ordnungsprinzipien des Universums und bildet die zentrale Achse des energetischen Austauschs zur Heilung, zur Wiederherstellung eines perfekten Ayni (Prinzip der Gegenseitigkeit) oder zum Schutz. Ein Despacho ist die lebendige Verkörperung der Lebenslandschaft des Schamanen, die sich auf der Ebene der Seele trifft und letztlich mit der Quelle der gesamten Schöpfung verbunden ist. Eine Despacho-Zeremonie ist in ihrer physischen Schönheit eine Reise zur Seele der Natur, und mit Hilfe der Geisterwelt erforschen wir das energetische Innenleben und die Symbolik der einzelnen Elemente unserer Opfergaben."
Eine Despacho-Zeremonie kann zum Beispiel dazu dienen, uns an unsere wechselseitige Verbindung mit der Natur zu erinnern oder diese zu intensivieren und ein nährendes Gleichgewicht zwischen unserer inneren und äußeren Welt zu stärken. Wenn du deine persönliche Despacho-Zeremonie gestalten möchtest, kannst du nach draußen in die Natur gehen, z. B. in einen städtischen Park oder Wald, und einen Gegenstand sammeln, zu dem du eine besondere Beziehung spürst. Das können Holzstöcke und Steine sein oder auch Symbole der dunklen Jahreszeit, wie heruntergefallene Blätter oder gesammelte Eicheln, Nüsse oder Beeren. Vielleicht findest du auch Symbole für die Vergänglichkeit des Lebens wie Tierknochen, tote Insekten oder Federn. Als nächstes kannst du einen stillen Platz in der Natur oder auch auf deinem Balkon oder im Gemeinschaftsgarten aussuchen. Hier kannst du aus den gesammelten Gaben der Natur ein Mandala zusammenstellen. Bei der Gestaltung deines Mandalas gibt es kein Richtig oder Falsch, es ist ein kreativer Prozess, der von deiner Intuition und der Natur geleitet wird. Wenn du das Despacho durchführst, um deine Beziehung zur Natur zu stärken, kann das Mandala ein symbolischer Raum sein, um das zurückzugeben, was die Natur uns jeden Tag in Form von Schönheit, Energie und Kraft gibt.
Um die metaphysische Verbindung mit Pachamama (Mutter Erde) zu öffnen, kann den Gegenständen beim Sammeln eine besondere Bedeutung verliehen werden. Diese Bedeutung kann während der Schaffung eines heiligen Raums für das Mandala an dem von dir gewählten Ort integriert werden. Dies geschieht zum Beispiel durch das Begrüßen der vier Winde in Verbindung mit einem archetypischen Tier, das besondere Dimensionen unseres menschlichen Seins in Beziehung zur Natur symbolisiert:
Während du die Gegenstände sammelst, das Mandala erstellst oder am Platz verweilst, kannst du in dich hineinhorchen und beobachten, ob irgendwelche Resonanzen auftauchen, wie Erinnerungen, körperliche Empfindungen, innere Bilder oder Gefühle. Es geht dann nicht darum, darüber zu urteilen, sondern einfach zu beobachten, sie auftauchen zu lassen und dann loszulassen, so wie die Jahreszeiten im Laufe des Jahres kommen und gehen. Das Mandala kann dann auch regelmäßig besucht werden. Auf diese Weise lässt sich in unserem Alltag ein Zeitfenster für Entschleunigung und Kontemplation finden oder einfach ein Grund, die Natur während der dunklen Jahreszeit zu genießen.
Autorin: Martina Artmann
Wenn Du weitere Anmerkungen oder Fragen zum Essay hast, bist Du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (m.artmann). @ioer.de
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