URBNANCE

Urbane Mensch-Natur Resonanz für eine Nachhaltigkeitstransformation

URBNANCE Blog

Der Natur unsere Stimme leihen –
im Rollenspiel auf der Suche nach Partnerschaften mit der Natur


Einleitung

Heute beherrschen Krisen und darin eingewobene dystopische Zukunftsbilder häufig die Nachrichten. In diesem Essay drehen wir das Blatt und teilen Ideen für eine gute Zukunft!

Zugegeben, Zukünfte kann es viele geben, denn sie entstehen zunächst in unseren Köpfen. Ich möchte positive Visionen vorstellen, in denen die Menschen eine Partnerschaft mit der außermenschlichen Natur eingehen. Diese Visionen sind angelehnt an die Idee der Städtepartnerschaften, durch die besonders nach dem 2. Weltkrieg und der Wiedervereinigung in Deutschland mehrere tausend Städte und Gemeinden eine freundschaftliche und auf gegenseitigen Austausch angelegte Beziehung zu anderen Städten aufgenommen haben. Im URBNANCE-Team haben wir ein Rollenspiel entwickelt, indem es darum geht, gemeinsam eine solche Partnerstadt mit der Natur zu visionieren. In diesem Essay führe ich dich als Leser*in gedanklich auf eine Reise durch die verschiedenen Spielphasen. Bevor wir einsteigen und gemeinsam überlegen, wie die Visionen einer Partnerstadt mit der Natur aussehen könnten, möchte ich begründen, warum es wertvoll erscheint, darüber in der Gegenwart ins Gespräch zu kommen.

Menschen leben heute weltweit immer häufiger in Städten. Städte scheinen attraktiv, da alle möglichen Annehmlichkeiten, Produkte und Dienstleistungen stets verfügbar sind. Der weltweite Siegeszug der Städte seit Beginn der industriellen Revolution und darin eingewoben der anhaltende Trend in der westlichen Welt zu großen Wohnungen, schweren Fahrzeugklassen oder häufigen Flugreisen verstärkt die massive Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Dieser Ressourcenhunger geht einher mit der Vorstellung, dass die außermenschliche Natur von uns Menschen als Objekt kontrolliert, manipuliert und beherrscht werden kann. Besonders in Städten wird jedoch immer spürbarer, etwa durch Flutereignisse oder Hitzesommern, dass diese ausbeuterische Beziehung auf Dauer zu Krisen führt, die wir nicht mehr kontrollieren können.

Die Idee der Mensch-Natur Partnerschaften entwickelt neue positive Bilder der Zukunftsstadt. Solche, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht und auf einen wechselseitigen Austausch durch ein Geben und Nehmen setzt. In einer solchen partnerschaftlichen Beziehung begegnen sich die menschliche und außermenschliche Natur „von Angesicht zu Angesicht“, werden in ihren Bedürfnissen wahrgenommen und sind in der Lage aufeinander zu reagieren (z. B. in Sinne von Fürsorge). Viele Herausforderungen werden uns auf dem Weg zu einer solchen Partnerstadt begegnen. Zwei davon möchten wir in unserem Rollenspiel aufgreifen: Wie können wir der außermenschlichen Natur eigenständige „Stimmen“ geben? Wie können wir ihre Bedürfnisse besser wahrnehmen, um im positiven Sinne mit ihr zu arbeiten anstatt sie zu kontrollieren?

Im unserem Rollenspiel stellen wir positive Beziehungsqualitäten einer Mensch-Natur Partnerschaft in den Mittelpunkt. Es ist eine Denkübung in wünschenswerten Zukünften, bei der wir einen Kerngedanken aufgreifen, der bereits auf breite Zustimmung trifft: „Zu einem guten Leben gehört die Natur dazu“, sagen 94 Prozent der Befragten im Jahr 2015 anlässlich der regelmäßig stattfindenden Naturbewusstseinsstudie des Bundesamts für Naturschutz. Wir gehen einen Schritt weiter und fragen:

  • Welche Qualitäten unserer Naturbeziehungen gehören zu einem guten Leben in der Partnerstadt?
  • Was muss alles passieren auf dem Weg von heute bis zur guten Zukunft in der Partnerstadt?
  • Welche Geschichten entstehen, wenn wir sie gemeinsam erzählen – gemeinsam mit Vertreter*innen der außermenschlichen Natur im Rahmen eines Rollenspiels?

Los geht´s – im Rollenspiel zur Partnerstadt

Im Folgenden lade ich dich zu einem Gedankenexperiment ein, indem du selbst in das Rollenspiel eintauchen kannst, um deine eigenen Ideen in die Visionen einer Partnerstadt mit der Natur einzubringen. Die in den Text eingebundenen Fotos stammen von der ersten Durchführung unseres Rollenspiels bei der IÖR-Jahrestagung 2022. Sie sollen dir helfen, dich besser in die Spielidee hineinzuversetzen.

 

Willkommensplakat mit Hinweisen zur Orientierung


Du verwandelst dich heute und reist in das Jahr 2050, um in deiner Rolle an einer Versammlung teilzunehmen und dort die erfolgreiche Umsetzung der Städtepartnerschaft mit der Natur zu feiern.

 

Eine Auswahl an Gegenständen aus der Partnerstadt

Vor dir liegen verschiedene Gegenstände: ein Haufen feiner Sand (1), ein bröckeliger, nasser Erdklumpen (2), ein Leckerli von deinem geliebten Haustier (3), eine zarte Blume von einer Wiese (4) und ein Zweig mit Blatt und Frucht (5).

 

Entscheide dich intuitiv für ein Objekt.
Für welches hast du dich entschieden? Verbindest du damit vielleicht eine persönliche Geschichte? Hat das Objekt bestimmte Gefühle bei Dir ausgelöst?


Jedes Objekt steht für eine Rolle, die im Spiel vertreten ist. Bei der Versammlung sind heute dabei: ein Hund, eine Erdhummel, ein Fluss, ein Regenwurm und eine Eiche. Die Nummern vom Foto der Gegenstände (1-5) findest du auf den entsprechenden Rollenkarten wieder.

Bitte lies die Rollenkarte, die zu deinem gewählten Objekt passt und lass die Informationen auf dich wirken.


Einfinden in die Rollen mit Hilfe von Rollenkarten

Rollenkarte für die Aufgabe bitte anklicken (Gestaltung: S. Klein)

Hast du die Rollenkarte gelesen, die du gewählt hast?
Du bist nun eingeladen, für eine Weile die Augen zu schließen und dir vorzustellen, wie es ist, dieses Wesen zu sein. Wie sieht dein städtischer Alltag aus?


Wenn du deine Augen wieder geöffnet hast, laden wir dich ein, dich von ein paar Bildern und Worten inspirieren zu lassen. Versuche dir eine Städtepartnerschaft mit der Natur lebhaft vorzustellen.


Die regenerative Stadt

Die gesunde und gerechte Stadt

Die konviviale Stadt

Die bewusste Stadt

Nimm dir einen Moment Zeit, um dir diese Visionen aus der Sicht deiner Rolle vorzustellen.


Du befindest dich im Jahr 2050. Die Visionen sind Wirklichkeit geworden: Die Idee einer Städtepartnerschaft mit der Natur ist ein voller Erfolg! Neue partnerschaftliche Leitbilder prägen seit Jahren die Stadtentwicklung. Der Stadtraum und das Leben haben sich für alle Stadtbewohner*innen verändert.

Du kommst in den Großen Saal im Rathaus und wirst von einem freundlichen Moderator aus dem Stadtplanungsamt begrüßt. In der Gruppe tauscht ihr euch darüber aus, wie es euch als Regenwurm oder Eiche in der Partnerstadt geht. Ihr berichtet, was ihr so tagtäglich erlebt und warum die Partnerschaft ein Grund zum Feiern ist.

Bitte überlege, was dir in der Stadt besonders große Freude bereitet oder dein Leben bereichert? Was trägst du selbst zur Partnerschaft bei, indem du es anderen zur Verfügung stellst? Was bekommst du geschenkt oder wird dir durch die Partnerschaften ermöglicht?


Der Moderator lädt dich und die anderen Mitspieler*innen dazu ein, gemeinsam zu überlegen, wie es zu dieser Zukunft kam und was auf dem Weg dorthin passiert ist. Es beginnt ein intensiver Erfahrungsaustausch, bei dem die verschiedenen Blickwinkel in die Diskussion einfließen. Der Moderator hat alle Hände voll zu tun, damit alle zu Wort kommen. Auf einem vorbereiteten Plakat hält er die diskutierten Punkte auf einem Zeitstrahl fest. So entsteht langsam eine gemeinsame Geschichte, die die Entwicklung zur Partnerstadt von 2020 bis 2050 beschreibt. Für dich als Leser*in dieses Essays, lade ich dich ein über folgendes nachdenken:

Überlege, welche Regeln oder auch Werte und Gewohnheiten haben sich verändert damit bestimmte Dinge passieren konnten? Was ist erst vor kurzem, also im Jahr 2045, passiert? Was waren wegweisende Ereignisse etwa im Jahr 2025?

 

Ein wünschenswerter Weg zu Partnerstadt

Nun verabschieden wir uns aus dem Spiel und ich möchte dich einladen, erneut deine Augen zu schließen und dir vorzustellen, wie die Bilder und Visionen einer Partnerstadt mit der Natur langsam verblassen. Mit Hilfe einer Achtsamkeitsübung kann es dir leichter fallen, deine Rolle abzuschütteln und in deinen menschlichen Körper zurückzukehren.

Du kannst nun dem Link zu einer geführten Achtsamkeitsübung folgen oder für dich selbst einen Weg finden, langsam wieder in deine menschliche Person zurückzukehren.


Zum Abschluss reflektieren wir unsere Eindrücke aus dem Rollenspiel. Dafür erhalten alle Mitspieler*innen eine Postkarte, auf der jede/r seine Gedanken notieren kann. Es sollen persönliche Eindrücke sein, die wir selbst in Erinnerung behalten möchten.

Bitte nimm einen Zettel zur Hand und schreibe deine spontanen Gedanken auf. Welche Eindrücke vom Rollenspiel möchtest du für dein privates oder berufliches Leben mitnehmen?

 

Die gesammelten Eindrücke der Teilnehmer*innen nach dem Rollenspiel auf der IÖR-Jahrestagung 2022

Ausklang

Jetzt haben wir Ideen für eine gute Zukunft geteilt. Da du den Essay bis hier gelesen hast, darf ich mich bei dir für deine Offenheit und den Gedankenaustausch bedanken. Ich hoffe es hat dir Spaß gemacht, über positive und wünschenswerte Zukünfte nachzudenken und dabei bewusst andere Perspektiven und Blickwinkel der außermenschlichen Natur einzunehmen.

Ein Fluss oder eine Eiche können ihre Bedürfnisse nicht selbst über Worte artikulieren, aber sind wir nicht in der Lage genauer hinzusehen und aufzuhorchen? Eine wichtige Rolle spielt hierbei sicherlich das reichhaltige Wissen der Naturwissenschaften etwa über Standortbedingungen in der Pflanzenwelt, das Verhalten von Tieren und die Wirkmechanismen und Funktionsweisen der Ökosysteme, dass dazu genutzt werden kann, die Biodiversität zu fördern und zu erhalten. In unserem Rollenspiel haben wir einen anderen Ansatz gewählt und versucht, uns mit Hilfe von Empathie und Vorstellungskraft gedanklich und emotional in andere Lebewesen oder ganze Ökosysteme hinzuversetzen. Wir sehen darin einen vielversprechenden Perspektivwechsel, der die Spieler*innen in einen partnerschaftlichen Austausch mit der außermenschlichen Natur bringt und  sie dazu anregt, genauer hinzusehen und aufzuhorchen, um gemeinsam wirksame Antworten zu entwickeln. Dabei geht es nicht darum, dass wir die "wahren" Bedürfnisse einer Hummel oder eines Hundes im Spiel abbilden. Vielmehr geht es darum, sich diesen Perspektiven zu öffnen, sie bewusst mitzudenken, hierarchische Weltbilder zu hinterfragen und die positive Vision einer Partnerstadt mit außermenschlichen Perspektiven zu bereichern.

Uns ist bewusst, dass die Artikulation der Bedürfnisse außermenschlicher Natur im Rollenspiel auf dem Wissen, den spontanen Assoziationen und Gedanken der Spieler*innen beruht. Was wäre wenn sich Städte dafür entscheiden, das Prinzip des partnerschaftlichen Austauschs mit der außermenschlichen Natur in politischen Entscheidungsprozessen im Stadtrat oder der Regionalentwicklung anzuwenden? Wie verändert sich die Stadt, wenn wir unsere Denk-, Handlungs- und Organisationsweisen von der Kontrolle und Nutzbarmachung der außermenschlichen Natur als lebloses Objekt auf ein Geben und Nehmen mit einem lebendigen Subjekt umstellen? Gelingt es uns dann vielleicht, die außermenschliche Natur in ihrer Vielfalt zu unterstützen, anstatt sie immer weiter einzuschränken und ohne moralische und materielle Grenzen auszubeuten?

Die Teilnehmenden der IÖR-Jahrestagung 2022 waren am Ende des Rollenspiels der Meinung, dass es in einer krisengeschüttelten Gegenwart besonders motivierend war, gemeinsam über positive Zukünfte nachzudenken und sich über Wege zu mehr Partnerschaft auszutauschen. Ich hoffe, du teilst diesen Eindruck und konntest den ein oder anderen positiven Gedanken aus diesem Essay mitnehmen.

Geteilte Eindrücke vom Rollenspiel auf der IÖR-Jahrestagung 2022

 

Ich freue mich sehr über deine Eindrücke, Gedanken und Visionen und möchte dich einladen, sie per E-Mail mit mir zu teilen. Ebenso kannst du dich gerne bei Fragen oder Kommentaren zum Essay an mich wenden  (p.harmsioer@ioer.de).

Autor: Philip Harms

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Mit Freude geben und nehmen – Impulse von Robin Wall Kimmerer über eine positive Partnerschaft mit der Natur

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Gesellschaftliche Formierungen von Weltbildern und ihre Wandelbarkeit dank psychischer Flexibilität.
Plus: abschließende Tipps von Maude


2023

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Indigene Weltanschauungen als ernstzunehmende Utopie? – Über den Wandel von Weltbildern und das, was wir als Weltgemeinschaft von indigenen Weltanschauungen lernen können

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Natur auf Augenhöhe begegnen – ein explorativer Spaziergang durch die Gärten von Schloss Trauttmansdorff in Meran

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Mit dem Herzen schauen – Über individuelle Mensch-Natur-Resonanz, ein gemeinsames Dilemma mit Antoine de Saint-Exupéry sowie eine nachhaltigkeitsbezogene Erklärung an die Leser*innen

Patagonien – ein Ort für resonante Beziehungen?

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Demut vor der Unverfügbarkeit des Schlafes – Über Zyklen, Schlafrituale und Mutter Erde

Februar

Wo ist die Liebe?
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2022

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Der Natur unsere Stimme leihen – im Rollenspiel auf der Suche nach Partnerschaften mit der Natur

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Ein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit in Zeiten der Ohnmacht.
Sorge um die Natur in der Stadt.

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Flötenspiel (1940) von Hermann Hesse: eine resonanzspezifische Analyse und Einbettung in den Nachhaltigkeitskontext

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Erste Erkenntnisse zu urbanen Mensch-Lebensmittel-Beziehungen durch die Interaktion mit Stadtbewohner*innen in Dresden

In mir ‒ in uns

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Responsive Beziehungen:
Das Wunder der Verletzlichkeit

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Liebende Seelen – liebende Herzen


2021

Dezember

Christmas ‒ eating in the spirit of the feast of love?

Nurturing our relation with nature and ourselves in the dark season