Einleitung
Menschen beeindrucken mich immer wieder mit ihrer Intelligenz, Ingenieurskunst millimetergenau zu entwickeln, die dann Telefonleitungen über Kontinente und Meere entstehen lässt, gestochen scharfe Bilder von entlegenen Galaxien hervorbringt oder in schöne nachhaltige Transportmöglichkeiten wie urbane Seilbahnen mündet (schön, denn sie sind leise, verbrauchen weniger Energie als andere ÖPNV-Transportmittel, verbreiten keine Schadstoffe und sind wenig störanfällig).
Manchmal frage ich mich jedoch, ob die menschliche Intelligenz und Ressourcen in die richtige Richtung eingesetzt werden, z.B. wenn Türme mit einer solchen Präzision und immensen Ressourcen gebaut werden wie der höchste im Bau befindliche Turm der Welt mit einer Spitze von 1.000 m Höhe, Asteroiden, die die Erde potentiell in der Zukunft treffen könnten, abgeschossen werden, um Menschen zu schützen oder mithilfe von smarten Technologien individuelle Nährstoffvorrate einzelner Menschen gemessen werden können, um dann zielgenaue digitale Anweisungen für den Gesundheitserhalt zu bekommen. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, hinter all dem stecken geniehafte Gedanken, die ich würdigen möchte. Gleichzeitig hat bereits Albert Einstein im 20. Jahrhundert gesagt, dass es „keine großen Entdeckungen und Fortschritte [gibt], solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt“.
Dass es eine große Anzahl an unglücklichen Kindern gibt, vermag sich hinter folgender Zahl verstecken: So ist hierzulande die Zahl an Delikten häuslicher Gewalt beispielsweise in der Corona-Pandemie weiter angestiegen und die Folgen für die vulnerablen Kinder sind massiv. Aber nicht nur Kinder sind von Krisen betroffen: Ein Prozent der Weltbevölkerung befindet sich laut der UNO Flüchtlingshilfe auf der Flucht. Und das ökologische Artensterben ist immens – so verschwinden allein jeden Tag etwa 150 Arten.
Dies wirft folgende Frage für mich auf:
Wieso entwickeln wir die beeindruckendsten technischen Innovationen und versorgen gleichzeitig nicht das Leiden so vieler Lebewesen?
Dem Wieso und einem Gefühl auf der Spur
Viele Menschen unterschiedlicher Professionen beschäftigen sich mit dieser Frage. Eine mögliche Antwort in Form einer Frage habe ich in dem Lied "Wir halten uns" von Sarah Lesch gefunden: Wo ist eigentlich unsere Liebe in der Welt? Sarah Lesch geht in ihrem berührenden Lied auf die räumliche Suche nach dem Gefühl, das sich versteckt hinter Eindrücken wie Nichts genügt in unseren Leben und hinter Alltagsszenen wie Die Kinder spielen Krieg im Garten. Schließlich findet die Musikerin die Liebe sitzend und rauchend in einer Bar – verletzt und schwer beleidigt, während die Auflehnung in der Schule ist und lernt, wie man still sitzt.
Aus zahlreichen philosophischen Ecken und wissenschaftlichen Disziplinen kennt man die Aussage „Wir schützen nur, was wir lieben“. Was bedeutet dies aber nun für die gegenwärtigen Krisen? Lieben wir zu wenig und warum? Und – bevor man dazu übergeht, direkt in Aktivismus zu verfallen – der m.E. auch wichtig ist, wozu ich später kommen werde – ist es nicht erst einmal traurig, die Möglichkeit dieser Annahme zuzulassen? Dass wir womöglich uns selbst zu wenig lieben und Umstände hinnehmen, obwohl es innerlich in uns manchmal schreit? Dass wir unsere Freund*innen zu wenig lieben und wir ihnen manchmal Freuden im Leben nicht gönnen? Oder auch dem Boden, auf dem wir leben, nicht genügend Fürsorge zukommen lassen und ihm stattdessen immer mehr abgewinnen? Dass wir Menschen physische Berührungen essenziell zum Leben brauchen, es aber hier bei uns in westlichen Gesellschaften zu wenige gibt? Und dass ein solcher Mangel an Liebe nachweislich krank macht?
Mich macht das sehr traurig, vor allem, da Liebe, Verbindung und Resonanz mit der Welt eigentlich da sind. In jedem Augenblick atmet es uns. In jedem Moment kann ich spüren, wenn ich es zulasse, dass ich für irgendetwas dankbar sein kann. Der Sufi-Mystiker Rumi hat dazu gesagt, es sei nicht unsere Aufgabe, nach Liebe zu suchen, sondern alle Hindernisse aufzuspüren, die wir ihr entgegengesetzt haben…
Achtsames Selbstmitgefühl für liebevolle Resonanz
… und am besten fängt man zum Üben zumeist bei sich selbst an. Wie kann ich in Resonanz mit mir gehen und den gemischten Gefühlen, die die gegenwärtigen Krisen in mir auslösen, um letztendlich innere und äußere Hindernisse aufzuspüren? Ein Werkzeug kann hier Achtsames Selbstmitgefühl sein (Mindful Self-Compassion (MSC)), das ich für meine Forschung näher erkunden und anwenden durfte.
Ein kleiner Exkurs:
Selbstmitgefühl kommt aus dem Buddhismus und wurde erstmals von der US-amerikanischen Professorin Kristin Neff wissenschaftlich untersucht. Es fördert nachweislich den liebevollen Umgang mit sich selbst, mildert Ängste und Depressionen und stärkt auch Partnerschaften.
Die Kernfrage des Selbstmitgefühls lautet: Was brauche ich? D.h. welches Bedürfnis steckt hinter meinem Gefühl. Hierzu helfen Kristin Neff zufolge diese drei Aspekte:
Achtsamkeit: Es beginnt mit einer achtsamen Bestandsaufnahme, was gerade in mir aktiv ist: Bezogen auf die ökologische Krise stelle ich bei mir fest, dass es mich fassungslos macht, dass manche Menschen, die ich kenne, für die Nachhaltigkeitstransformation auf so viel verzichten und Wagnisse eingehen (z.B. seit 10 Jahren nicht mehr zu fliegen, bewusst keine Kinder bekommen oder wie zuletzt die letzte Generation, die sich in mutigen Aktionen auf Straßen festklebt, um Eingeständnisse der Politik zu erzwingen) während sich für andere in puncto Nachhaltigkeit kaum etwas in ihrem Alltag ändert und man diesbezüglich u.a. auch von einem individuellen als auch kollektiven Trittbrettfahrerproblem in der Klimakrise spricht. Die Erde ist doch die Lebensgrundlage von allen und somit sollten sich auch alle an ihrem Schutz beteiligen. Neben ökologischen Fragen überschattet der Russische Angriffskrieg auf die Ukraine unser aller Leben, macht Angst und schürt gesellschaftliche Spannungen. Im Sinne des Selbstmitgefühls wende ich mich also achtsam den vorhandenen Gefühlen zu, wie es ein guter Freund oder eine gute Freundin täte: "Wow, ich sehe gerade viel Kummer. Vielleicht auch Trauer. Bewunderung für die Stärke des ukrainischen Volks. Wut über die Ungerechtigkeiten. Ich sehe das alles."
Verbundenheit im Menschsein: Ich zeige meinem Gefühl dann, dass es damit nicht allein ist. Vielen Menschen geht es so, dass sie aktuell neben anderen Gefühlen Ängste und Wut hinsichtlich des Klimawandels verspüren. Dass das aber eine gesunde Reaktion auf eine herausfordernde Situation ist und nicht mit einer Krankheit zu verwechseln ist, betonen hierbei Psychologists for Future. Und auch auf Drohgebärden rund um Atomwaffen mit gemischten und durchaus starken Gefühlen zu reagieren kann demzufolge als ein Mitschwingen mit der Krise verstanden werden. Kristins Neff‘s Konzept zufolge gehört es aber zum Leben, neben Glück und Freude auch Schmerz zu fühlen, und diese Bandbreite an unterschiedlichen Gefühlen eint uns im Menschsein.
Selbstfreundlichkeit: Mithilfe der Selbstfreundlichkeit versuche ich dann, mir das zu geben, was meine zuvor festgestellten Gefühle und Bedürfnisse brauchen. Und ja, das ist erstmal gesehen werden, getröstet werden. Da ist aber auch Wut und diese braucht in diesem Fall etwas Anderes. Generell sind sich Psycholog*innen weitestgehend einig, dass Wut zu Gerechtigkeit beitragen möchte, was ich auch praktisch in einigen Wutworkshops bei einer professionellen Gefühleforscherin lernen durfte. Meine Wut möchte etwas im Außen verändern, selbstwirksam zu mehr Gerechtigkeit beitragen. Es ist dann gar nicht so leicht zu identifizieren, zu welcher Gerechtigkeit. Sicherlich zur Klimagerechtigkeit. Aber auch zu einer sozialen Gerechtigkeit, nämlich wenig sichtbare Menschen, die sich besonders verdient machen und positive Werte wie Mut, Durchhaltevermögen und Fürsorge sichtbar aufbringen wertzuschätzen. So wie es zum Beispiel der Musiker Strome in seinem Lied "Santé" auch tut, das er voller Wertschätzung allen Menschen widmet, die seines Erachtens in unseren Gesellschaften nicht genügend gewürdigt werden.
All diese drei Komponenten – Achtsamkeit, Verbundenheit im Menschsein und Selbstfreundlichkeit – können dazu beitragen, in Rumi’s Sinne die Hindernisse zu identifizieren, die wir der Liebe entgegengesetzt haben, um die immerwährende Liebe (wieder) zu spüren, uns mit ihr zu verbinden und sie anderen Wesen wiederum zum Ausdruck zu bringen. Dass die Liebe bzw. ihre Abwesenheit für das Leben von uns Menschen einen gewaltigen Unterschied macht, zeigt ein Buch von Tenzin Kiyosaki aus dem Jahr 2021. Hierfür hat sie Sterbende begleitet und sie am Ende ihres Lebens gefragt, ob diese etwas bereuen. Die Antworten liegen zumeist bei inneren Werten und Gefühlen: So gaben viele an, sie bereuten es, ihre Liebe nicht weitergegeben zu haben, ihre wahren Träume nicht gelebt zu haben und Groll nicht überwunden zu haben. Diese Aussagen decken sich mit einem Buch der Palliativkrankenschwester Bronnie Ware aus dem Jahr 2012, wonach Sterbende oftmals bereuen, nicht den Mut aufgebracht zu haben, emotional zu sich zu stehen und glücklich zu sein. Ein neurobiologischer Mutmacher, dies im Hier und Jetzt umzusetzen, kann hier Gerald Hüther’s Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“ darstellen. Es lädt dazu ein, die Grenzen des scheinbar individuell und gesellschaftlich Möglichen neu zu überdenken, Verantwortung für eigenes Tun und Nicht-Tun zu übernehmen und verweist zuletzt auf die Kraft der eigenen Emotionen.
Ausblick: Der Kreis schließt sich!
Dass Liebe möglich ist – selbst in rauen Zeiten und unter schwierigen Bedingungen – , habe ich kürzlich wieder erfahren: Ich war sehr traurig gewesen wegen der zahlreichen Krisen der Welt und hatte mich auch krank gefühlt, obwohl ich gerne mit einer Freundin, die mit ihrem kleinen Sohn aus der Ukraine geflüchtet war, in den Rosengarten wollte. Im Laufe des Tages hatten mich dann von ihr diese Bilder erreicht – explizit aus dem Rosengarten zusammen mit einem Herzen <3. Da ist die Liebe, dachte ich mir! Es gibt sie noch. Ich war und bin beindruckt, wie ein Mensch, der so viel Schwierigkeiten erleiden muss, so viel Zuneigung und Wertschätzung schenken kann. Wie sie das schafft? Sie entscheidet sich bewusst und aktiv jeden Tag für das Positive.
Diese Zuneigung und die bewusst-positive Ausrichtung geben mir wiederum Kraft und Motivation, so dass ich meine Aufmerksamkeit meiner Arbeit widmen kann. Danke!
Autorin: Susanne Müller
Wenn Du weitere Anmerkungen oder Fragen zum Essay hast, bist Du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (s.mueller). @ioer.de
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