URBNANCE

Urbane Mensch-Natur Resonanz für eine Nachhaltigkeitstransformation

URBNANCE Blog

Demut vor der Unverfügbarkeit des Schlafes –
Über Zyklen, Schlafrituale und Mutter Erde

 

Einleitung: Schlaf als Resonanzbeziehung zur Welt

Sicher passiert es nicht nur mir immer wieder, dass ich abends im Bett liege und denke „Wow, Betten gehören definitiv zu den besten Erfindungen der Welt“. Gebaut aus Rohstoffen der Erde repräsentieren sie für mich in diesem Moment Pachamama – Mutter Erde – , die ihre Arme ausbreitet und uns in die Welt des Schlafes begleitet. Pacha steht zeitlich gesehen für das Vergangene, das Gegenwärtige und das Kommende. Und so lassen wir beim Schlafengehen die vergangenen Stunden los und erholen uns für den kommenden Tag.

 

Pachamama


Die Erinnerungen des Tages verblassen langsam, letzte Gedanken gehen durch den Kopf. Der Körper wird getragen, der Kopf gestützt und eine warme Decke hilft, sich geborgen zu fühlen. Geborgen und sicher. Physiologisch steckt beim Menschen dahinter u.a. eine Menge des Glückhormons Serotonin, welches wiederum in der Zirbeldrüse in Melatonin umgewandelt wird. Diese Entspanntheit und ein Vertrauen, dass man loslassen darf, bewirken dann, dass…... ja, dass was eigentlich?

Der Akt des Einschlafens ist ein Resonanzakt par excellence der Mensch-Welt-Beziehung. In keiner anderen zeitlichen Phase regeneriert der menschliche Körper mehr als im Schlaf: Wir steigern unsere Abwehrkräfte, unsere Erinnerungen werden verarbeitet und unser Nervensystem wird geformt. Wir sind da aber keine Sonderheit der Natur – alle Wesen brauchen Phasen und Zyklen der Ruhe, Regeneration und Fürsorge. Als Kind (und auch heute) hat mich das immer entzückt, wenn bei stehenden Zügen ein „Pssst… schläft“ im Display stand. Auch die durch uns entworfene Technik ist keine unendlich-nutzbare Maschine, die wir überstrapazieren sollten. Während es uns bei technischen Geräten vielleicht einfacher erscheint, sie mechanisch zu reparieren, zu warten oder ihnen Pflege zukommen zu lassen, ist der Akt des Schlafes durch unseren menschlichen Körper und Geist einer besonderen Komplexität unterworfen (ich bin mir sicher, dass dies auch bei anderen Lebenswesen zutrifft, allerdings zielt die Forschung zumeist auf Beschreibung tierischen Schlafverhaltens ab, während es beim Menschen oftmals um Diagnostiken und Therapieverfahren geht).

Um in die höchst regenerative Phase des Schlafes zu gelangen, gilt die Logik der Resonanz, welche nicht beinflussbar oder berechenbar ist. So erläutert der Soziologe Hartmut Rosa: Schlaf ist im Kern nicht erzwingbar, lediglich die Bedingungen dafür können geschaffen werden. Bezeichnet wird diese besondere Charakteristik durch Rosa mit dem Terminus Unverfügbarkeit, wozu er 2020 eigens ein Buch veröffentlichte. Angewandt auf weltliche Phänomene bedeutet das beispielsweise: Wir können keinen Schnee herzaubern. Wir können nicht bewirken, dass ein bewunderter Mensch uns mag. Und wir können eben auch nicht auf Knopfdruck schlafen. Letzteres wird wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen partiell kennen, wenn sie mal dringend Schlaf herbeigesehnt hat, als es nicht „klappte“. Während es glücklicherweise bei einigen Menschen nur sporadisch vorkommt, scheinen Menschen mit chronischen Schlafstörungen dann wie aus dem Rhythmus gekommen zu sein – aus ihrem Tanz mit dem Leben. Begriffe wie Dissonanz fallen mir hierzu ein, keine Ruhe mehr in der Nacht zu finden, sich dem Lebensfluss nicht mehr vertrauensvoll hinzugeben. Dass das längst kein Einzelfall hierzulande ist, darauf weisen Wissenschaftler*innen vermehrt hin: So leiden 6% der deutschen Erwachsenen unter ernsthaften Schlafstörungen und sogar jeder Dritte Deutsche klagt über Einschlafprobleme. Die die Kosten dieser Schlafstörungen betragen in Deutschland 0,7 bis 1,6 % des BIP. Die Konsequenzen zeigten sich vermehrt in Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht und auch in einer Neigung zu Depressionen. Nun stellt sich hierbei aber die Frage, was läuft da schief? Eine sehr liebevolle „Schlaf-Erklärung“ und Hilfestellung des Journalisten Dieter Bednarz ist in der Zeitschrift Moment by moment – Das Magazin für Achtsamkeit (Ausgabe 4/2021) zu finden:

 

„Der Schlaf ist wie ein Partner, und wie in jeder Partnerschaft erwartet er Rücksichtnahme. Er möchte nicht in irgendein Korsett gestanzt, sondern respektiert und angenommen werden.“

 

Gehen wir bei Schlafstörungen also nicht partnerschaftlich mit Schlaf um? Dabei spricht neben den oben beschriebenen physisch-regenerativen Mechanismen von Schlaf auch einiges Weiteres für mehr Rücksichtnahme und Fürsorge gegenüber dieser Tagesphase: Als responsive Antwort wird man auch vom Partner Schlaf beschenkt, wenn es ihm gut geht. Er fördert unsere Kreativität – nicht wenige der größten Errungenschaften fanden ihren Ursprung in Träumen. Einstein soll die Relativitätstheorie beim Träumen einer Schlittenfahrt gekommen sein, Larry Page von Google träumt von seinem Logarithmus Page Rank und eine besondere Wertschätzung drückte Paul McCartney seinem Schlaf aus: Die Melodie seines Welthits Yesterday erschien ihm im Schlaf – er habe sie eigentlich nicht selbst geschrieben. Diese Demut vor der höheren Macht des Schlafs vermag auch im Kontext des gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsbestrebens von Bedeutung sein. So diskutiert Prof. Dr. Theodor Abt in einem 1992 in der Fachzeitschrift GAIA veröffentlichten Artikel, inwiefern neben technisch-ökonomischen Wandlungsprozessen auch geistig-seelische Aspekte und die unbewusste Welt des Schlafes aktiv zur Nachhaltigkeitstransformation beitragen können. Unter dem Stichwort „Leitbilder aus der Innenwelt“ diskutiert er Möglichkeiten, wie Visionen und Träume – als Ausdruck von Natur – in die Tagesrealität übersetzt werden und wie diese Antworten auf die drängenden Fragen der sozial-ökologischen Krise geben können. So sieht er in Träumen die Möglichkeit zur Schaffung einer Brücke in Richtung neuer Grundeinstellungen gegenüber Natur:

 

„Sich Träumen zuzuwenden ist natürlich für einen Wissenschaftler schon ein starkes Stück. Es ist demütigend, daß neben dem scharfen, klaren Intellekt noch etwas an- deres vorhanden sein soll, das auch etwas wissen mag. Aber vielleicht realisieren wir infolge der heutigen Umweltkrise, daß wir Geist nicht mehr in cartesischer Weise mit Intellekt in eins setzen dürfen und meinen können, Wissen bedeute das Integral aller wissenschaftlichen Publikationen.“

 

Bei wem liegt die Verantwortung für gesunden Schlaf?

Nun könnte man hier sagen, ok, das ist eine individuelle Verantwortung, sich um einen gesunden Schlaf zu bemühen. Es hat aber andererseits auch gesellschaftliche Ursachen, die u.a. in unserem Wirtschaftssystem zu suchen sind. Dieses gibt relativ standardisiert Lebensrhythmen der Bevölkerung vor, die dann zu sozialen Jetlags führen können. Deren Auswirkungen bleiben dann nicht individuell und es entstehen gesamtgesellschaftliche Kosten und Risiken, die bislang eher unterrepräsentiert bzw. gesellschaftlich unterschätzt sind. So ist zum Beispiel im Bereich der Mobilität der Anteil von verursachten Unfällen auf Grund von Schlafmangel höher als dessen, der auf den häufig verwiesenen gefährdenden Alkohol zurückzuführen ist. Auch in einfachen zwischenmenschlichen Interaktionen sind wir uns noch lange nicht des Einflusses guten Schlafes bewusst oder gehen sie an:  So haben Wissenschaftler*innen herausgefunden, dass Menschen mit Schlafmangel sich sozial zurückziehen und weniger hilfsbereit und empathisch sind als solche, die ausreichend erholt waren. Sicherlich ist dies nicht nur auf die menschliche Umgebung sondern auch auf die mehr-als-menschliche-Natur zu beziehen, die dann demzufolge auch weniger Empathie und Fürsorge erfährt – relationale Qualitäten, welche essentiell für die Förderung von Mensch-Natur Resonanz sind. Im Sinne der responsiven Mensch-Natur-Beziehung kann uns Pachamama bei einem gesunden Schlaf unterstützen. So gibt es zahlreiche Entspannungsmusik, welche mit Geräuschen aus der Natur arbeiten, wie Regen oder Meeresrauschen und welche uns Menschen in den Schlaf wiegen sollen.

Welche Auswirkungen Schlafmangel bis dato für unser Leben impliziert, ist meines Erachtens nicht abzuschätzen, sie mögen aber gigantisch sein. Das Thema Schlaf und Erholung ist somit definitiv auch gesellschaftlich anzugehen, um förderliche Bedingungen auszuloten – für Menschen aber letztlich auch für ein liebevolles, nachhaltiges Miteinander mit der Natur. Forschungsbedarf wäre demnach, im Sinne von Professor Abt einerseits, im Zusammenspiel von Träumen und der Entwicklung von Lösungen und Visionen für die Nachhaltigkeitstransformation. Ein zweites Spannungsfeld, das bislang nicht untersucht ist, knüpft an die Studie zu zurückgehender Hilflosigkeit gegenüber Mitmenschen bei Schlafmangel an: Welche Rolle spielt Schlaflosigkeit für die aktive Fürsorge um Natur?

 

Gesellschaftliche Ruhe- und Erholungsoasen (hier in Karlsruhe)


Die Schlafbeziehungen stärken – aber wie?

Wenn wir nun aber an dem Rädchen des gesunden Schlafens drehen möchten, um die Menschen in ihrer Selbstfürsorge zu stärken und sie dadurch auch in ihren sozialen Kompetenzen zu stärken, werden bestimmte Trends in modernen Gesellschaften schnell deutlich: Wir möchten Probleme oftmals mechanistisch auf Knopfdruck behandeln, sie uns verfügbar machen. Und wir möchten sie weghaben, z.B. durch die Einnahme von Medikamenten (wie hier in diesem Lied wunderbar parodistisch dargestellt). Aber meistens werden Dinge dadurch nur noch präsenter und schwieriger zu lösen. An dieser Stelle vermag eine buddhistische Perspektive sehr heilsam sein: Sich dem Thema – hier dem „Schlafproblem“ – zuwenden, es akzeptieren, vielleicht zu betrauern und tiefer zu verstehen. Und letztlich kann sich dann vielleicht zeigen, dass das Problem im Grunde kein „Schlafproblem“ ist (wir neigen in unserer Gesellschaft dazu, Problemen falsche, irreführende und verantwortungsdiffundierende Namen zu geben wie etwa „Problemkind“ oder „Flüchtlingswelle“, um die Wurzel des Problems nicht zu sehen zu müssen und wegzuschieben). So ist es nicht die Schuld eines Kindes, wenn es anders oder schwieriger ist als andere. Es ist auch nicht eine Krise von Flüchtlingen, wenn ihre Lebensbedingungen in ihren Herkunftsländern u.a. durch einen globalen Klimawandel zerstört werden. Und es ist auch nicht die Schuld des Schlafes, dass er uns wieder einmal abends nicht besuchen will. Es ist vielmehr eine mangelnde Bewusstheit und Fürsorge unsereins als Individuen und Gesellschaft, den Schlaf als etwas Kostbareres zu bewahren. Als eine Phase des Tages, in der Mutter Erde uns mit offenen Armen empfängt und wir uns vertrauensvoll in ihre Obhut begeben (können). Während in der Gesellschaft Schul- und Arbeitspläne an Schlafrhythmen weitaus besser angepasst werden sollten, gilt es auch, die negativen Einflussfaktoren zu identifizieren. Massive Beschleunigung der Lebensverhältnisse, mehr Leistungsdruck und Burn-Out-Symptome beeinträchtigen Schlafverhältnisse und sind definitiv gesellschaftlich zu verstehen und anzuerkennen. Ein weiterer Hinweise, dass diese Störfaktoren nicht selten mit unserer modernen Lebensweise zusammenhängen, liefert eine Studie der Fachzeitschrift „Current Biology“: Die Forscher*innen besuchten drei indigene Völker und untersuchten deren Schlafverhalten. Interessanterweise hatte keines der drei Völker ein Wort für Schlafstörungen. Abschließend gilt hervorzuheben, dass sich hinter gestörten Schlafverhältnissen auch zumeist ein Schleier sozialer Ungerechtigkeit verbirgt, da z.B. einzelne Gruppen wie Frauen, arbeitslose, ärmere und/oder partnerlose Menschen häufiger unter Schlafproblemen zu leiden scheinen. Neben der gesellschaftlichen Perspektive kann ich aber auch als Individuum genau hinhören und lernen, was mein Körper abends braucht. Ich kann mithilfe einer achtsamen Beobachter*innenperspektive herausfinden, was mir gut tut und was eher einen geruhsamen Schlaf behindert.

 

Ideen für individuelle Schlafrituale

Rituale sind laut dem Soziologen Hartmut Rosa eine Möglichkeit, aktiv resonante Beziehungen zu fördern. Wissenschaftler*innen sehen zunehmend Potential in deren Anwendung auch im Nachhaltigkeitsbereich, um die Beziehung zur Natur zu stärken. Und auch speziell die Beziehung zu unserem Schlaf kann durch Rituale gepflegt werden. Psycholog*innen plädieren in der Schlafhygiene dafür, immer zu einer ähnlichen Zeit zu Bett zu gehen; so kann der Körper sich darauf einstellen. Auch kann man das Zubettgehen mit einer wiederkehrenden Tätigkeit, einem Ritual, einleiten. Manche Menschen lesen noch vor dem Schlafen um abzuschalten, andere schreiben Tagebuch, und wiederum andere hören sanfte Musik (wie z.B. das Album Moon Safari von Air). Auch ein Tee, ein gut riechendes Öl oder Wärme sind empfohlen, da sie die basale, instinktive Ebene des Körpers ansprechen und Gefühle von Geborgenheit heraufbeschwören. Bestimmte Ernährungsweisen am Abend vermögen individuell unterstützend oder eher hinderlich sein.

 

Beispiel: ein heißes Getränk als Schlafritual

 

Mancher eins unter den Leser*innen wird dies an Gepflogenheiten erinnern, die im Alltag von Kindern eine Rolle spielen, da insbesondere für die kleineren Erdenbürgr*innen solche strukturierten Rahmenbedingen von großer Bedeutung sind. Aber eben auch den großen Erdenbürgr*innen tuen diese in Vergessenheit geratenen Schlafrituale gut: Sie pflegen die Beziehung zum Schlaf, sie fördern das Vertrauen in die Lebenszyklen sowie unsere Beziehung zur Natur und Pachamama. Und letztlich stärken sie die Individuen, um wiederum mit Offenheit und Empathie in Resonanz mit anderen Erdgenoss*innen zu treten.

 

Autorin: Susanne Müller 

Wenn Du weitere Anmerkungen oder Fragen zum Essay hast, bist Du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (s.muellerioer@ioer.de).



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