Hintergrund
Seit fünf Tagen befinde ich mich auf einer Fähre durch den Amazonas Regenwald und warte auf den passenden Moment, um mit dem Schreiben dieses Essays zu beginnen. Ich hatte gehofft, dass die bewegte Umgebung – das Fließen des Wassers und das Vorbeiziehen der üppigen, grünen Landschaft – auch meine Gedanken in Bewegung bringen würden. Bis heute war das aber nicht der Fall. In den letzten Tagen haben mir die Hitze, die Nächte in der Hängematte und das dauerhafte Dröhnen des Motors das Denken erschwert und ich habe versucht darauf zu vertrauen, dass der Moment für das Schreiben noch kommen würde. Heute scheint es so weit zu sein. Es ist der erste August und in Lateinamerika wird an diesem Tag la Pacha Mama – die Mutter Erde – gefeiert. Das motiviert mich, denn ich möchte einen Essay darüber schreiben, wie mich indigene Weltanschauungen hinsichtlich der mehr-als-menschlichen Natur in den letzten Wochen berührt haben und es fühlt sich stimmig an, damit am Tag der Pacha Mama zu beginnen.
Ich reise seit drei Monaten durch Chile, Argentinien, Bolivien, Peru sowie Brasilien und während dieser Zeit war für mich der Kontrast zwischen indigenen und westlichen Weltanschauungen in Bezug auf die mehr-als-menschliche Natur sehr präsent. Diesem Kontrast möchte ich in meinem Essay auf den Grund gehen und das Nachhaltigkeitsprojekt "Florestania" würdigen. In Florestania werden sowohl westliche als auch indigene Weltanschauungen respektiert, wertgeschätzt und ernst genommen. Gemeinsam bilden beide Weltanschauungen dort die Basis für eine starke Nachhaltigkeit, die sich konsequent durch den Alltag zieht. Zu sehen, wie Aspekte aus unterschiedlichen Weltanschauungen gemeinsam die Grundlage für ein nachhaltiges Leben bilden können, war für mich sehr inspirierend und hoffnungsspendend. Darum möchte ich meine Erlebnisse mit euch teilen und hoffe, damit etwas Hoffnung und Inspiration an euch weitergeben zu können.
Ufer des Amazonas Flusses, Brasilien
Anmerkung: Eine weiße Europäerin, die über indigene Weltbilder schreibt? Kritische Selbstreflexion als notwendige Grundlage für die Auseinandersetzung mit indigenen Weltanschauungen
Als weiße Europäerin über indigene Weltanschauungen zu schreiben finde ich heikel – schließlich haben Europäer*innen im Rahmen der Kolonialisierung mit unvorstellbarer Gewalt indigene Gemeinschaften auf der ganzen Welt zerstört, ausgebeutet sowie ihnen mit dem gewaltvollen Begriff "unzivilisiert" Wissen und Menschlichkeit abgesprochen. Durch Kulturaneignung wurden indigenen Gemeinschaften dabei Teile ihrer materiellen und immateriellen Kultur genommen, aus dem Kontext gerissen und in westlichen Systemen ausgenutzt.
Der Beginn der Kolonialisierung in Lateinamerika mag zwar mehrere Jahrhunderte zurück liegen, doch die Schäden der Kolonialisierung konnten nie wieder gut gemacht werden und die ungleichen Machtverhältnisse setzen sich bis heute fort. Das spiegelt sich auch auf der Ebene globaler Debatten – beispielsweise zur Klimakrise – wider und westliche Weltanschauungen dominieren dort den Diskurs. Und das, obwohl indigene Gemeinschaften weltweit am wenigsten CO2 ausstoßen und sich 80% der verbleibenden Biodiversität unseres Planeten auf den 22% der Erdoberflächen befinden, die von indigenen Gemeinschaften bewohnt werden.
Wegen der mangelnden Berücksichtigung indigener Perspektiven in Diskursen über Nachhaltigkeit liegt es mir am Herzen,, diese ins Zentrum meines Essays zu stellen. Gleichzeitig möchte ich dabei auf keinen Fall selbst eine Form von Kulturaneignung betreiben und unbedacht indigene Weltanschauungen für die Ziele westlicher Gesellschaften instrumentalisieren. Darum war es mir wichtig, diesem Text eine kritische Reflektion voranzustellen – über die vergangene sowie anhaltende Gewalt, die westliche Gesellschaften auf indigene Gesellschaften ausgeübt haben und nach wie vor ausüben. Zudem möchte ich mir meiner privilegierten Position in diesem System bewusst sein und an dieser Stelle meinen tiefen Respekt für die indigenen Gemeinschaften ausdrücken, von deren Weisheit ich in den letzten Monaten lernen durfte.
Sonnenaufgang auf dem Amazonas Fluss, Brasilien
Der Wunsch nach planetarer Gesundheit als Ausgangspunkt
Auf das Thema der indigenen Weltanschauungen bin ich gestoßen, weil ich auf der Suche nach Visionen für ein nachhaltiges Leben bin. Diese Suche kommt daher, dass mich der aktuelle Zustand unserer Welt quält. Zum Beispiel finde ich es erschreckend, dass noch nicht einmal ¾ des aktuellen Jahres vergangen sind und wir Menschen bereits alle Ressourcen verbraucht haben, die die Erde in einem Jahr zur Verfügung stellen kann. 2023 ist damit keine Ausnahme. Es ist ein langjähriges Muster, dass wir deutlich mehr Ressourcen verbrauchen als wir sollten. Unser ressourcenintensiven Lebensstile und Wirtschaftsweisen werden das System unserer Erde zwangsläufig irgendwann kollabieren lassen. Dazu macht es mir Angst, dass aus der Klimakrise jedes Jahr Naturkatastrophen resultieren. Dieses Jahr fallen mir dazu die Waldbrände im Zentrum Chiles ein, die selbst die 500 km entfernte Hauptstadt Santiago tagelang in Rauch gehüllt haben. Außerdem frustriert es mich, dass wir als Gesellschaft nicht zu lernen scheinen und es beispielsweise hier auf dem Schiff dreimal täglich Fleisch zu essen gibt, obwohl eine vegetarische und vegane Ernährung viel umweltschonender wäre. Und wie um meine Gedanken zu unterstreichen, wirft, während ich an diesem Text schreibe, ein anderer Passagier eine Dose Coca-Cola in den Amazonas, als wäre dieser ein riesiger Mülleimer.
All diese Beobachtungen frustrieren mich, machen mich manchmal traurig und andere Male wütend. Um mit diesen Gefühlen umgehen zu können, suche ich immer wieder nach positiven Visionen für das Zusammenleben auf der Welt. Aktuell lässt sich meine Suche in der folgenden Frage ausdrücken:
Wie können wir auf eine Art und Weise zusammenleben, die das komplexe System unserer Erde in Balance bringt und seinen menschlichen und nicht-menschlichen Mitbewohner*innen gleichermaßen Wohlbefinden ermöglicht?
Im Laufe der Zeit habe ich bemerkt, dass es von dieser Frage Parallelen zum Konzept der planetaren Gesundheit (planetary health) gibt. In diesem Paradigma wird anerkannt, dass die Gesundheit menschlicher und nicht-menschlicher Natur vollkommen miteinander verwoben ist und daher ein Wohlbefinden des Gesamtsystems angestrebt werden muss. Wie die Beispiele oben zeigen, scheinen wir von einem Zustand der planetaren Gesundheit im Moment leider weit entfernt und meine Vorstellung von einem guten Zusammenleben auf der Erde scheint utopisch An dieser Utopie festzuhalten hilft mir allerdings, um mit den negativen Gefühlen umgehen zu können, die der Zustand der Welt manchmal in mir auslöst.
Der Amazonas Fluss kurz vor einem Unwetter
Wohlbefinden für das Gesamtsystem als gelebte Utopie in indigenen Gemeinschaften weltweit
Es gibt verschiedene Auffassungen davon, wie der Begriff "Utopie" definiert werden kann (siehe zum Beispiel 1, 2). Für mich ist eine Utopie eine positive Zukunftsvision. Außerdem zeichnet sich eine Utopie für mich dadurch aus, dass sie wie eine Wunschvorstellung gedacht werden darf, ohne dass ihre Umsetzbarkeit dabei direkt berücksichtigt werden muss. Für mich ist genau dieser Punkt wichtig, weil mir ein Träumen – ohne dieses direkt durch Fragen der Realisierbarkeit einzuschränken – Lebensfreude gibt.
Eine ähnliche Lebensfreude habe ich empfunden, als ich auf meiner Reise festgestellt habe, dass es sehr wohl Orte auf der Welt gibt, an denen Menschen und die mehr-als-menschliche Natur nach kollektivem Wohlbefinden strebend miteinander leben. Denn das, was für mich die Utopie eines nachhaltigen Lebens ist, wird an vielen Orten der Welt von indigenen Gemeinschaften gelebt. Diesem Lebensstil liegen Weltanschauungen zugrunde, die sich von einer westlichen Sicht auf die Welt grundlegend unterscheiden. Zwar ist das konkrete Weltbild jeder indigenen Gemeinschaft einzigartig, dennoch teilen diese in der Regel verschiedene zentrale Auffassungen. Zum Beispiel ein Bewusstsein darüber, dass Menschen in ein übergeordnetes System eingebettet sind, mit der mehr-als-menschlichen Natur ein großes Ganzes bilden und nachhaltiges Wohlbefinden nur durch ein florierendes Gesamtsystem geschaffen werden kann. Das Konzept der planetaren Gesundheit, das für die Welt als Ganzes noch eine Utopie ist, scheint in der Weltanschauung indigener Gemeinschaften tief verankert zu sein.
Ich kann mich an einen Moment in Chile erinnern, in dem für mich diese Untrennbarkeit von Menschen und der mehr-als-menschlichen Natur zum ersten Mal greifbar wurde. In einem Seminar zu interkulturellen Aspekten von Sexualität ging die Dozentin Dr. Ana Millaleo auf Diversität in der Kultur des indigenen Volkes der Mapuche ein. Ana gehört selbst zum Volk der Mapuche und konnte uns dadurch aus erster Hand berichten. Sie erklärte, dass sexuelle Orientierungen außerhalb der Heteronorm ein selbstverständlicher Teil der traditionellen Kultur der Mapuche sind, da diese zur Beziehungsvielfalt gehören, die in der mehr-als-menschlichen Natur vorkommt. Obwohl diese Aussage völlig nachvollziehbar ist, hat sie mich im ersten Moment überrascht und mir wurde klar wie tief ich – neben Heteronormativität – eine Trennung von "Kultur" und "Natur" verinnerlicht habe. Ich bin Ana sehr dankbar, dass sie diese Reflektion in mir angestoßen hat. Ich habe den Eindruck, dass ich dadurch für einen flüchtigen Moment verstehen konnte, was es wirklich heißt, Menschen sowie die mehr-als-menschliche Natur nicht getrennt zu denken.
Mehr-als-menschliche Natur in Florestania
Später bin ich mit den Weltanschauungen anderer indigener Gemeinschaften in Berührung gekommen und habe bestätigt gefunden, dass die Untrennbarkeit von Menschen und der mehr-als-menschlichen Natur in den verschiedenen indigenen Weltanschauungen zentral ist. Beispielsweise sind in der Weltanschauung der indigenen Völker Hawaiis Menschen direkte Nachfahren der Mutter Erde. Die menschliche und die mehr-als-menschliche Natur sind dadurch über familiäre Beziehungen miteinander verbunden. Entsprechend wird die mehr-als-menschliche Natur wie ein Familienmitglied umsorgt und respektiert. Wie das aussehen kann, zeigen Kekuhi Kealiikanakaoleohaililani und Christian P. Giardina (2015) in einer wissenschaftlichen Publikation auf eine Art und Weise, die ich sehr schön finde. Bevor sie mit ihrer Hinführung zum Thema beginnen, begrüßen sie alle Anwesenden: die Lesenden und deren nicht-menschliche Familienmitglieder wie beispielsweise die umgebenden Berge, Flüsse, Tiere oder Wetterbedingungen. Danach begrüßen sie die eigenen Familienmitglieder, die bei ihnen vor Ort sind: Großmutter Lava, Großvater Sonne, eine Schildkröte, die kühle Meeresbrise und die Palmen am Ufer.
Ein anderes Beispiel für die Untrennbarkeit von Menschen und der mehr-als-menschlichen Natur findet sich in der indigenen Gemeinschaft der Karen im Norden Thailands. Jedes Mitglied der Gemeinschaft hat einen seelenverwandten Baum, der geschützt wird und Schutz spendet. Bei der Geburt eines Kindes wird dessen Nabelschnur um einen Baum gewickelt, der daraufhin der Guardian Spirit des Kindes wird. Dafür steht der Baum lebenslang unter dem Schutz der indigenen Gemeinschaft. Auch der Tradition des Spokane Volks ist die Verbindung zwischen den Menschen und der mehr-als-menschlichen Natur zentral. So beschreibt Chad S. Hamill (2021), dass dort eine andauernde Kommunikation zwischen den Menschen und dem Geist der mehr-als-menschlichen Natur besteht. Hierbei unterstreicht er, dass der Mensch leise und empfänglich sein muss, um den Geist der mehr-als-menschlichen Natur wahrzunehmen. Das lässt mich an Hartmuth Rosas Resonanztheorie und ihre Übersetzung für nachhaltige Mensch-Natur-Beziehungen denken: Nur wenn der Mensch offen ist, die Stimme der mehr-als-menschlichen Natur zu hören, kann eine resonante Beziehung zwischen beiden entstehen.
Mir sprechen diese Sichtweisen der mehr-als-menschlichen Natur aus dem Herzen und ich finde die Utopie, dass die ganze Welt so mit ihr umgehen könnte, hoffnungsspendend.
Das Ufer des Amazonas Flusses, Brasilien
(Wie) Kann die Weltgemeinschaft von indigenen Weltanschauungen lernen?
Westliche Gesellschaften könnten hinsichtlich der Beziehung mit der mehr-als-menschlichen Natur viel von indigenen Gemeinschaften lernen, allerdings ist das nicht ganz leicht. Unter anderem weil westliche und indigene Wissenssysteme grundlegend unterschiedlich funktionieren und weil die Dominanz des westlichen Systems einen Wissensaustausch auf Augenhöhe verhindert. Wegen der Wichtigkeit, endlich effektiv gegen die Klimakrise anzugehen und des unbestreitbaren Potentials indigenen Wissens zur Nachhaltigkeit beizutragen, wachsen trotz der damit verbundenen Herausforderungen die Bemühungen, westliches und indigenes Wissen zu verbinden. Zwei Ansätze von Teams mit indigenen und nicht-indigenen Mitgliedern finde ich dabei besonders schön. Der erste Ansatz stammt aus Kanada und wird als two-eyed Seeing – das Sehen mit zwei Augen – beschrieben. Die Idee ist dabei, ein Thema sowohl aus westlicher als auch aus indigener Perspektive zu betrachten und dabei die Stärken beider Sichtweisen zu kombinieren. Eine ähnliche Herangehensweise kommt aus Neuseeland. Dort werden westliche und Maori Forschungsparadigmen im Konzept he awa whiria kombiniert. Die Metapher bezieht sich auf die in Neuseeland vorkommenden verflochtenen Flüsse und sagt aus, dass westliche und indigene Paradigmen wie zwei Flüsse sind, die sich zunächst unterscheiden aber dann treffen sowie vermischen können. Ich finde beide Metaphern wunderschön und für den Umgang mit verschiedenen Formen des Wissens sowie des Erkenntnisgewinns sehr hilfreich. Für mich persönlich heißt ein two-eyed Seeing zum Beispiel, dass ich auf quantitativ-empirischen Erkenntnisgewinn nach westlichen wissenschaftlichen Gütekriterien vertraue und gleichzeitig eine Weltanschauung vertrete, in der Menschen sowie die mehr-als-menschliche Natur untrennbar verwoben sind, eine Seele haben und nur kollektiv einen andauernden Zustand des Wohlbefindens erreichen können.
Schattierungen von Grün im Amazonas Regenwald
Florestania – Ein Projekt, in dem Nachhaltigkeit auf indigenem und westlichem Wissen basiert
Die Konzepte des two-eyed Seeings und des he awa whiria haben mir geholfen, eine innere Dissonanz aufzulösen, die ich bei dem Versuch verspürt hatte, mein westliches Wissen und die neu erworbenen Einblicke in indigene Wissenssysteme in meinem Kopf zu vereinen. Als ich verstehen konnte, dass sich beide Paradigmen ergänzen und sich dadurch ein neues Potential entfalten kann, habe ich mich gefragt, wie dies in der Praxis angewandt werden könnte. Diesbezüglich haben mir Ellen und Nico mit ihrem Projekt „Florestania“ ein wunderbares Modell geboten, das mich sehr inspiriert hat. Ellen und Nico haben am Rande Cobijas im bolivianischen Amazonasregenwald ein Nachhaltigkeitsprojekt gegründet, in dem sie sich neben dem Wissen aus ihrer akademischen Laufbahn unter anderem auf Konzepte und Weltanschauungen der indigenen Gemeinschaften vor Ort stützen. Auf 5 Hektar Land unterstützen sie den Regenwald und seine Böden dabei, sich von der vorherigen nichtnachhaltigen Landnutzung zu erholen, fördern Biodiversität und leben in Einklang mit der mehr-als-menschlichen Natur.
Die Pforte zum Florestania Projekt
Im Juli dieses Jahres habe ich zwei Wochen in Florestania verbracht und dort als Freiwillige mitgeholfen. Über die Beschreibung des Projekts war mir schon im Voraus klar, dass es dabei um eine Regeneration der Böden und des darauf wachsenden Regenwalds gehen würde. Entsprechend habe ich mir vorgestellt, dass in Florestania respektvoll mit der-mehr-als menschlichen Natur umgegangen und ihre Ressourcen mit Bedacht genutzt würden. Genauso war es auch und es war wunderschön zu erleben, wie konsequent der für mich oft abstrakt klingende Begriff „Nachhaltigkeit“ dort im Großen und im Kleinen gelebt wird. Beispielsweise wurden für den Bau der Lebensräume lokal vorhandene, nachwachsende Materialien wie Palmenblätter verwendet. Energie wurde sparsam genutzt und über zwei Solarpaneele gewonnen. Das Abwasser der Küche und vom Duschen wurde zum Gießen verwendet. Müll wurde getrennt sowie später als Kompost oder Recyclingmaterial wiederverwendet.
Die Fürsorge für die mehr-als-menschliche Natur war aber nicht nur im Design des Projekts sichtbar, sondern auch in kleinen, alltäglichen Gesten. Beispielsweise wurden alle Tiere in Florestania mit Respekt behandelt: Dem Wohlergehen der dort lebenden Hunde Patua und Sasi wurde genauso viel Wert beigemessen, wie dem Wohlergehen der menschlichen Bewohner*innen. Selbst die Vogelspinne, die manchmal zu Besuch kam, hatte einen Namen und beim Arbeiten wurden auch kleine Tiere wie Würmer oder Frösche respektiert und geschützt. All dem liegt die Idee zugrunde, dass Wohlbefinden nur dann nachhaltig sein kann, wenn es für alle Elemente des Systems gilt, da dieses sonst aus dem Gleichgewicht gerät – ein Prinzip, das ich oben als charakteristisch für verschiedene indigene Weltanschauungen vorgestellt habe.
Plastiktüten werden für das Pflanzen von Setzlingen wiederverwendet
Ein weiterer Einfluss indigener Denkweisen ist das Prinzip der Spirale, das in Florestania die Arbeit mit den Böden und deren Regeneration leitet. Wie ich oben bereits erwähnt habe, ist ein wichtiges Bestreben des Projekts, die Böden vor Ort bei ihrer Regenerierung zu unterstützen und damit auch den Regenwald auf dem Grundstück wieder florieren zu lassen. Das Vorgehen wird von dem Prinzip einer Spirale geleitet, das Ellen und Nico von den indigenen Gemeinschaften im Amazonas Regenwald gelernt haben. Die Idee ist dabei, dass dem Leben spiralförmige Energien zugrunde liegen und sich Muster in leicht veränderter Form ständig wiederholen – wie eine Spirale, die immer fast den gleichen Kreis geht, sich dabei aber weiterentwickelt und höhere Energielevel erreicht.
Die Stämme der Bananenstauden schützen die Erde auf dem Weg zwischen den Beeten
Das Konzept der Spirale wird in Florestania bei der Arbeit mit dem Land angewandt. Dabei werden Kreisläufe erzeugt und eine langsame positive Entwicklung für das Gesamtsystem Florestanias angestrebt. Somit entstehen sich wiederholende Muster sowie gleichzeitig eine Entwicklung, was wir uns in der Form einer Spirale vorstellen können. Dieses Prinzip wird bei der Pflege der Bananenstauden sichtbar: Bananen stellen einen wichtigen Bestandteil des Ökosystems vor Ort dar und bei der Bananenernte wird die gesamte Staude mit einer Machete gefällt. Die Stämme der Bananenstauden speichern viel Wasser und werden darum im Anschluss halbiert und auf die Erde gelegt, um diese vor zu viel Sonnenstrahlen zu schützen und feucht zu halten. Das hilft der Gesundheit des Bodens, der wiederum immer mehr gesunde Bananenstauden gedeihen lässt. Diese produzieren entsprechend Biomasse, die dann erneut für die Pflege der Böden eingesetzt wird. So entsteht ein Kreislauf, der sich über die Zeit weiterentwickelt und Florestania erblühen lässt. Über die letzten acht Jahre hinweg haben Ellen und Nico mit diesem Prinzip große Fortschritte erreicht und unfruchtbare Böden konnten sich Stück für Stück regenerieren.
Blume in einem der Gärten Florestanias
Für mich war es sehr spannend zu sehen, wie indigene Weisheit als Leitprinzip für die nachhaltige Gestaltung eines Lebensraums genutzt werden kann und ich danke Ellen und Nico für diese wertvollen Einblicke sehr. Besonders schön fand ich dabei zu sehen, wie westliches und indigenes Wissen gemeinsam die Basis für eine konsequente starke Nachhaltigkeit sein können. Meine Reise im letzten Jahr war von einer inneren Reise begleitet und rückblickend habe ich das Gefühl, dass am Anfang die Suche nach Visionen für ein nachhaltiges Leben stand. Diese Suche hat mich dann zum Konzept der planetaren Gesundheit geführt. Planetare Gesundheit war für mich zunächst ein abstraktes Prinzip, das anschaulicher wurde, als ich mit der Weltanschauung und den Lebensstilen indigener Menschen in Berührung gekommen bin. Das war für mich sehr inspirierend, weil ich den Eindruck hatte, dass indigene Gemeinschaften die Utopie leben, die ich mir für die ganze Welt wünschen würde. Gleichzeitig haben sich mir aber auch große Fragen gestellt. Zum Beispiel, wie indigenes und westliches Wissen vereint werden kann, trotz der vollkommen unterschiedlichen Weltanschauungen, die beiden Systemen zugrunde liegen und der Gewalt, die westliche Gesellschaften über indigene Gesellschaften ausüben. Dazu habe ich mich gefragt, was meine Rolle als weiße Europäerin in diesem System ist und wie ich mich als westlich sozialisierte und privilegierte Person mit indigenen Weltanschauungen beschäftigen kann. Diese Dissonanz hat sich für mich etwas gelöst, als ich mit Konzepten und Projekten in Berührung gekommen bin, die gleichermaßen auf indigenem und westlichem Wissen aufbauten und in denen beiden Weltanschauungen wertgeschätzt und respektiert wurden. Ich kann mit einer großen Dankbarkeit auf meine Reisezeit zurückblicken und bin insbesondere dankbar für die verschiedenen indigenen Weltanschauungen von denen ich lernen durfte und mit denen ich sonst nicht in Berührung gekommen wäre. Diese haben mir bewusst gemacht, wie relativ eine Weltanschauung ist und mir geholfen, meinen westlich sozialisierten Blick zu weiten. Ich hatte das Gefühl, für die mehr-als-menschliche Natur dadurch immer sensibler zu werden und diese noch weiter schätzen zu lernen. Da mich das Thema der indigenen Weltanschauungen sehr bewegt und mir Hoffnung gespendet hat, wollte ich es in diesem Essay ergründen. Ich bedanke mich bei dir, dass du dir die Zeit zum Lesen genommen und mich ein Stück auf meiner Reise begleitet hast. Und wer weiß, vielleicht ist ja ein kleiner Funke Hoffnung zu dir übergesprungen
Autorin: Maike Hering (URBNANCE wissenschaftliche Hilfskraft)
Wenn Du weitere Anmerkungen oder Fragen zum Essay hast, bist Du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (maikeflaus). @gmail.com
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