Forschende sollten neutral, objektiv und distanziert gegenüber den Dingen, den Menschen, den Umgebungen, im Grunde genommen den Entitäten und Materialitäten bleiben, die sie untersuchen. Doch immer mehr Wissenschaftler*innen erkennen, dass dies weder eine leichte Aufgabe noch wirklich notwendig oder möglich ist. Die Welt, in der wir leben, und die Gesellschaften, die uns formen und umgeben, sind komplex und miteinander verflochten. Welches Forschungsthema ich auch angehe – mein gesamtes Sein wird beeinflussen, wie ich das Thema angehe. Wie ich es operationalisiere, analysiere und schließlich auch die Forschung präsentiere, ist unweigerlich mit meinem kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund, meinen eigenen Überzeugungen und Glaubenssätzen sowie meinem täglichen Wohlbefinden verknüpft.
Das Dilemma in einer Welt die Objektivität erwartet subjektiv zu sein, löst sich in der Intra-View-Methode auf. Hier ist Subjektivität ausdrücklich erwünscht. Ohne zu tief in den theoretischen Hintergrund von Intra-Views und das zugrunde liegende Konzept der Intra-Aktion einzutauchen, ist eine kurze Erklärung dessen was hinter dem Begriff „Intra“ steckt vermutlich hilfreich. Im Vergleich zu herkömmlichen Interviews stehen nicht nur die zwei (oder mehr) Personen im Gespräch im Fokus. Vielmehr sind es die verschiedenen verflochtenen Materialitäten, die das Interviewgeschehen gestalten. Diese umfassen im Wesentlichen alles und jeden, die am Gespräch und den dabei erlebten Praktiken beteiligt sind. Ich sehe dabei eine starke Verbindung zwischen der Resonanztheorie und der Intra-View Methode. Im Sinne der Resonanz müssen wir offen sein, uns berühren zu lassen; wir sollten der Welt zuhören, um in Aktion zu treten, uns zu transformieren und resonante Beziehungen im Sinne eines guten Lebens aufzubauen. In meiner Forschung konzentriere ich mich ausdrücklich auf urbane Mensch-Lebensmittel-Resonanz. Dabei folge ich der Absicht, den Materialitäten durch die Durchführung von Intra-Views Gehör zu schenken: den Lebensmitteln im Allgemeinen; den Menschen, die Lebensmittel produzieren und servieren; denjenigen, die sie konsumieren; aber auch den Orten, an denen Lebensmittel materialisieren. Dazu gehören beispielsweise öffentlichen Kantinen. Auf diese Weise können externe und interne Beziehungen zwischen Menschen und der mehr-als-menschlichen Welt im Kontext von Mensch-Lebensmittel-Beziehungen berücksichtigt werden.
Nach den Fokusgruppen – dem ersten Projekt meiner Promotion – entschied ich mich daher, die genannte Methode anzuwenden, um die Mensch-Lebensmittel-Resonanz weiter zu erforschen. Während dieser Intra-Views traf ich mich zum Mittagessen mit fremden Menschen in zwei verschiedenen öffentlichen Kantinen, unterhielt mich mit ihnen über Lebensmittel und ihre Beziehung dazu sowie über die Kantinen selbst. Ziel war es, die resonanten und entfremdenden Qualitäten dieser Orte zu untersuchen. Inwieweit können solche Orte uns dabei unterstützen oder hindern, resonante Momente mit Lebensmitteln zu erleben? Ermöglichen diese Orte uns, resonante Beziehungen zu Lebensmitteln zu leben oder aufzubauen? Welchen Einfluss hat das jeweilige Individuum auf die Entwicklung der Mensch-Lebensmittel-Resonanz im Hinblick auf innere Werte, Weltanschauungen, Gewohnheiten, tägliche Stimmungen etc.? Und in welchem Maße können diese Erkenntnisse dazu beitragen, nachhaltige Ernährungsbeziehungen zu fördern oder nicht nachhaltige Beziehungen hinter sich zu lassen? In diesem Fall entstand die Datenerhebung nicht nur durch die Menschen, die miteinander sprachen und aßen. Zusätzlich waren es auch die Lebensmittel, die wir konsumierten, die Kantinenumgebung um uns herum, die Menschen, die dort arbeiteten, die Geräusche, das Licht, die Möbel usw.
Bei dieser besonderen Gelegenheit werden die Forschenden ermutigt, ihre Sinne zu schärfen, um nicht nur zuzuhören und Fragen zu stellen, sondern auch ihre Umgebung wahrzunehmen. Daher möchte ich in diesem Essay meine Erfahrungen teilen. Im Wesentlichen möchte ich reflektieren, wie ich mich vor, während und nach den verschiedenen Intra-Views fühlte. Ich führte die Intra-Views im Frühsommer 2023 durch. Geplant war es die Person vor der Kantine zu treffen, ihr zu erklären, was wir vorhaben, gemeinsam hineinzugehen, etwas zu essen auszuwählen, gemeinsam zu essen und sich zu verabschieden. Ich nahm mir vor mit den Teilnehmenden maximal eine Stunde lang zu sprechen und zu essen, die Orte im Vorbeigehen zu beobachten, nicht nur nach dem Wohlbefinden der Person zu fragen, sondern vielleicht auch ihre Körpersprache zu lesen. Das klingt schon nach einer Menge Details die eine Person zu observieren versucht und das war auch eines der Hauptgefühle die ich hatte – das klingt anstrengend!
Als Doktorandin ohne allzu viel Erfahrung fühlte ich mich definitiv nervös vor jedem einzelnen Intra-View. Obwohl ich mich als gesprächig und nicht besonders schüchtern im Umgang mit Fremden betrachte, fühlte es sich ziemlich seltsam an, eine so intime Praxis zu teilen. Essen – was für eine Erfahrung! Alles daran scheint so persönlich, die Wahl des Gerichts, etwaige Tischmanieren, die Gespräche dazwischen. Und dann musste ich auch noch mein Gesprächsprotokoll im Auge behalten, die vorbereiteten Beobachtungshinweise beachten, mit einem Mikrofon und einem Rekorder herumlaufen usw. Zudem war ich im siebten Monat schwanger, von Zeit zu Zeit natürlich erschöpft und müde. Dennoch wurde die Nervosität immer von einer gewissen positiven Aufregung begleitet. Die Methode fühlte sich so neu, anders und erkundend an im Vergleich zu dem, was ich in so vielen Arbeiten gelesen hatte. Obwohl das Durchführen von Intra-Views für mich eine überwältigende Aufgabe darstellte, dachte ich oft, vielleicht muss Forschung einfach komplex und umfangreich sein, um die sozialen Prozesse so realitätsgetreu betrachten zu können wie möglich.
Wie schon in den Fokusgruppen erlebt und nachdem die anfängliche Nervosität abfiel, waren viele der Gespräche wirklich faszinierend. Wie im normalen Leben fällt es einem mit einigen Menschen leichter sich zu unterhalten und zu verbinden und das war auch bei den Intra-Views nicht anders. Mit einer der Interviewpartnerinnen verband mich die bevorstehende Reise der Mutterschaft. Sie – selbst Mutter – sprach viel darüber, wie sich ihre Beziehung zu Lebensmitteln verändert hat seitdem sie auch die Ernährungspräferenzen ihrer Kinder berücksichtigen musste. Mit einer anderen Interviewpartnerin fand ich einen Zugang durch die Kantine selbst. Ich war selbst Studentin an der Universität Dresden und besuchte die entsprechende Kantine oft. Wir unterhielten uns über die Veränderungen im Speiseplan, darüber wie unterschiedlich das Essenserlebnis dort ist je nachdem, ob man in einer Gruppe oder allein isst und auch darüber wie die verschiedenen Jahreszeiten die Erfahrung verändern. Ein Zufluchtsort im kalten Winter, aber ein heißes und stickiges Unterfangen im Sommer. Mit einem der Interviewpartner führte ich ein tieferes Gespräch über Veganismus, über die Herausforderungen im Alltag, aber auch beim Essen außer Haus und speziell in öffentlichen Kantinen.
Darüber hinaus erlebte ich viele reflektierende Momente. Der Besuch öffentlicher Kantinen und das dortige Essen waren für mich meist eine tägliche Normalität. Ich habe nie bewusst darauf geachtet was genau mir an einem Ort atmosphärisch gefallen oder missfallen hat. Die Speisekarte und das Angebot waren für mich immer ziemlich wichtig, aber die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Materialitäten des Ortes zu lenken, wie sie zusammenkommen und daraus eine einladende Erfahrung machen, habe ich nie aktiv wahrgenommen. Diese Wahrnehmung spiegelten mir auch die Teilnehmenden in den Gesprächen. Meistens teilten sie am Ende des Intra-Views ihre eigene Erkenntnis über alte, aber neu entdeckte Empfindungen während ihres Mittagessens. Eine Person entwickelte beispielsweise eine größere Wertschätzung für die üppige Auswahl an gut zusammengestellten Gerichten. Eine andere Person gewann Wertschätzung für das freundliche und zuvorkommende Personal. Dies gab mir den Eindruck, dass auch meine Intra-View Teilnehmenden in gewisser Weise von dieser Praxis profitierten.
Natürlich habe ich nicht jedes Intra-View so erlebt, wie ich es oben beschrieben habe. Wie erwähnt, können Gespräche je nachdem welche zwei Menschen aufeinander treffen, mehr oder weniger fruchtbar sein. Dies führte zu einigen schwierigeren Begegnungen. Gefühle des Unbehagens waren dabei meist mit den Personen im Gespräch verbunden und nicht unbedingt mit dem Essen oder dem Ort selbst. Besonders unangenehm fühlte ich mich, als politische Überzeugungen ins Spiel kamen, insbesondere, wenn konservative und rechtsgerichtete politische Ansichten geäußert wurden. Dazu gehörten Themen wie die Leugnung des Klimawandels oder die Ablehnung progressiver Parteien. Diese Aussagen standen nicht nur im Widerspruch zu meinen eigenen Überzeugungen, sondern auch zu den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Klimawandel sowie zur Ablehnung des Rechtsextremismus in Dresden. In diesen Situationen fühlte ich mich ehrlich gesagt hilflos, was die Umsetzung des tieferen Sinns der Methode anging. Wie sollte ich eine aktive Entität innerhalb des Gesprächs sein, wenn ich wusste, dass eine Diskussion über solche politischen Überzeugungen wahrscheinlich zum Abbruch des Intra-Views und damit zum Verlust der gewünschten Daten geführt hätte? Ich fühlte mich in diesen Momenten nicht immer selbstbewusst und wortgewandt genug, um meinen Standpunkt klarzumachen und das Gespräch dennoch am Laufen zu halten.
Eng damit verbunden waren weitere Meinungsverschiedenheiten mit den Interviewpartner:innen, die meine eigenen Weltanschauungen, Werte und Überzeugungen, insbesondere im Hinblick auf den Fleischkonsum betrafen. Obwohl dies für die Daten und die Analyse interessant war, kann ich nicht sagen, dass es mir leichtfiel die unterschiedliche Auffassung der Teilnehmenden zu den Auswirkungen des Fleischkonsums auf die Welt, insbesondere auf die Tiere, zu akzeptieren. Eine weitere prägnante Erfahrung machte ich, als eine der teilnehmenden Personen mich bat meine Notizen einzusehen. Ich weiß nicht, ob es auch in normalen Interviews üblich ist einer solchen Bitte nachzukommen, aber ich entschied mich dem Wunsch nachzugehen. Leider hatte ich vergessen was ich bereits geschrieben hatte, einschließlich eines Kommentars über die Nervosität, das schnelle Sprechen und die Verwirrung der interviewten Person. Die Person las dies laut vor und ich fühlte, wie ich rot wurde, nur um sofort erleichtert zu sein, als die Person tatsächlich meine Beobachtung bestätigte. Es scheint, dass einige unangenehme Erfahrungen sich tatsächlich völlig anders entwickeln können und ich denke, das ist auch der Reiz von Intra-Views. Schließlich fand ich es am herausforderndsten alles im Blick zu behalten. Die Körpersprache zu beachten, sich auf mein Forschungsziel zu konzentrieren, Gespräche zu provozieren, wo keine waren, den Raum zu beobachten, die anderen Menschen, meine eigene Stimmung und mein Gefühl. Diese Eindrücke führten mich zu der übergreifenden Frage: Was habe ich verpasst?
Die beschriebenen Höhen und Tiefen sind wahrscheinlich – zumindest bis zu einem gewissen Grad – bei jeder Art von Interview üblich. Es ist jedoch weiterhin mein Wunsch, diese Erfahrungen in intra-aktiver Weise zu erfassen und in die Analyse einzubeziehen. Ich vermute, dass dies der herausforderndste Teil der bevorstehenden Forschungsphase sein wird. Es zeigte sich in jedem Fall als äußerst hilfreich bei den Intra-Views früher am Ort des Geschehens zu sein und auch länger zu bleiben. Dadurch konnte ich zumindest versuchen, Beobachtungen über den Ort, mich selbst und alle anderen beteiligten Entitäten aufzufangen. Daher ist es im Moment schwer, ein abschließendes Fazit zur Praktikabilität dieser Methode zu formulieren. Aber ich kann definitiv sagen, dass es sowohl Spaß gemacht hat und aufregend war, als auch schwierig und von Zeit zu Zeit herausfordernd. Was bleibt ist die Überzeugung, dass Methoden relationaler und komplexer sein sollten, um zu versuchen alle verflochtenen Einflüsse der beteiligten Materialitäten zu erfassen.
Autorin: Mabel Ramisch Bei Fragen oder Anmerkungen zum Essay bist du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (m.ramisch@ioer.de).
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