URBNANCE

Urbane Mensch-Natur Resonanz für eine Nachhaltigkeitstransformation

URBNANCE Blog

Liebende Seelen – liebende Herzen

Ein Mensch hat eine Seele. Hat jedes Wesen eine Seele?

Was ist mit einem Hund? Ist ein Hund nicht ein Wesen mit einer Seele?


Die schöne Seele Ranui, Deutschland (2019)

Und was ist mit einem Pferd, das Studien zufolge einen tiefen und intensiven Kontakt zu Mitmenschen sucht, der dem liebenden Kontakt einer Mutter zu ihrem Neugeborenen ähnelt? Und was ist mit der Seele einer Walkuh, deren Liebe und Trauer sie dazu bringt, ihr totes Neugeborenes 17 Tage an der Oberfläche zu halten, obwohl sie damit ihr eigenes Leben gefährdet? Und zu guter Letzt, was ist mit einem Buch und dessen Geschichte, die uns tief in unseren Herzen berührt und uns vor Schönheit der Charaktere zu Tränen rührt?


Ist eine menschliche Seele anders als andere Seelen?

Menschen möchten sich gerne als anders sehen, der Natur übergeordnet, wertvoller. Doch woher kommt dieser ego-zentristische Glauben an den Unterschied und die Überlegenheit, der ein höheres Maß an Schutz voraussetzt? Wieso stellen viele staatliche Verfassungen, wie z.B. auch die deutsche, nur die Würde des Menschen in den Mittelpunkt? Gemäß Studien tragen insbesondere monotheistische, patriarchale Religionen - wie auch das Christentum hier in Deutschland - zu einem ausbeuterischeren und nicht-gleichberechtigten Verhalten gegenüber der Natur bei, während hingegen animistische Religionen, Buddhismus und Hinduismus die Natur eher als ebenbürtigen Partner oder gar als heilig anerkennen. Indem wir einen Regenwurm retten und seinen Eigenwert eines lebenswerten Lebens, das geschützt werden muss, anerkennen, gehen wir eine Verbindung mit dem Leben ein. Wenn wir uns vorstellen, dass wir möglichweise selbst irgendwann als Regenwurm wiedergeboren werden, könnten wir uns in die Seele des Regenwurms einfühlen, wie es der Idealvorstellung einer gerechten Gesellschaft des Philosophen Rawls entspräche: Einer Gesellschaft, in der alle Wesen schützenswert und Teil des Universums sind. Heutzutage ist der Begriff Gesellschaft in den meisten Teilen der Welt auf die menschliche Gesellschaft beschränkt. Das soll nicht bedeuten, dass Menschen weniger schützenswert sind als nicht-menschliche Wesen und dass ihre Werke nicht anerkannt werden sollten. Es gibt positive Aspekte der menschlichen Spezies wie Hilfsbereitschaft, Kunst oder beeindruckende Intelligenz, die uns berühren können und das Potential zu einer Transformation haben. Allerdings sind Menschen auch in der Lage und bekannt für das massenhafte Schlachten von Tieren, Regenwaldvernichtung und Desertifizierung ganzer Landstriche. Unser Streben nach Mehr - nach mehr Entwicklung, mehr Besitz, mehr Wissen - hat dazu geführt, dass wir heute einer sozial-ökologischen und ökonomischen Krise gegenüberstehen, die nur noch schwer abzuwenden ist. Auch wenn behauptet wird, dass das menschliche Gehirn weiter entwickelt ist als die Gehirne anderer Lebewesen (und wer definiert dieses weiter entwickelt eigentlich?), haben diese weder Schlachthäuser, Bomben oder Konzentrationslager entwickelt, noch sind sie für den Klimawandel verantwortlich. Es ist also diskutierbar, ob die Menschen wirklich so intelligent sind und ob ihr Vermögen zur Selbstreflektion und ihr Gewissen wirklich so besonders ist, wenn es uns nicht an der ökologischen Zerstörung unserer Heimat hindert. Aber es gibt Personen, die beweisen, dass Menschen mutig sein können, wie der kürzlich verstorbene südafrikanischen Erzbischof Desmond Tutu, der immer für das Allgemeinwohl gekämpft hatte. Menschen wie Oskar Schindler, der viele Juden vor der Tod rettete oder Rosa Parks, die den Mut hatte, sitzen zu bleiben. Es braucht auch diesen Mut, um sich gegen das heutige wachstumsorientierte System zu stellen und für mehr Solidarität, Selbstbestimmung und die Anerkennung der Schönheit der Natur zu kämpfen.

Demonstration gegen ökonomische Liberalisierung, Berlin, Deutschland (2015)

Es sind Aktivist*innen von Fridays for Future und Greta Thunberg, die diesen Mut aufbringen. Es sind Politiker*innen, die unbequeme Inhalte aussprechen. Und es sind auch Wissenschaftler*innen, die über diesen Aktivismus forschen und diesen damit voranbringen. Lasst auch uns Mut haben! Lasst uns die stumme Beziehung, die westliche Gesellschaften mit der Natur haben, in eine responsive, fürsorgliche Partnerschaft verändern, indem wir der Natur ihre Stimme zurückgeben und ihre Unverfügbarkeit anerkennen.


In-Kontakt-Treten mit der Natur

Um der Natur ihre Stimme zurückzugeben und ihre Unverfügbarkeit im Sinne Rosas Resonanztheorie anzuerkennen, müssen wir Menschen (wieder) lernen, die Sprache der Natur zu sprechen und zu verstehen. Es ist nicht zu übersehen, dass fast jedes Kommunikations-modell auf menschlicher, Kommunikation mit Worten basiert. Aber die Kommunikation mit anderen Wesen findet auf einer anderen Ebene statt. Beim Reiten eines Pferdes läuft der Großteil des Kommunikationsprozesses nonverbal ab: Ich spanne meine Muskeln an, ich verlagere Gewicht und das Entschiedenste – mein Fühlen, mein Denken und Handeln sind kongruent. Ich bin im richtigen Moment achtsam und auf das Pferd konzentriert. Schließlich, wenn die Kommunikation ihren Höhepunkt erreicht, reicht es bereits, eine Aktion nur zu denken und das Pferd wird reagieren und mit mir resonieren. Genauso spürt das Pferd, wenn ich einen Moment nicht aufmerksam bin – und dieser Moment kann mir seine Unverfügbarkeit zeigen. Diese Unverfügbarkeit anzuerkennen bedeutet, dass da ein anderes Wesen ist, das Gefühle und Träume hat, das sich sorgt und eine eigene Persönlichkeit besitzt. Und dass dieses nichtmenschliche Wesen genauso unter psychischen Traumata leiden kann wie Menschen. Kommen wir zurück auf schützenswerte Wesen – es würde bedeuten, allen Wesen Schutz und Liebe zukommen zu lassen. Wenden wir diese Idee doch auf eines der bekanntesten Kommunikationsmodelle an: Die 5 Sprachen der Liebe. Warum ist die Natur in westlichen Gesellschaften von solchen Modellen meist ausgeschlossen? Anerkennende Worte für die Natur können durch Gebete, Predigten oder Meditationen und durch kleine Geschenke an die Natur wie extra getrocknetem Kaffeesatz ausgedrückt werden. Oder durch Quality-Time-Aktivitäten wie das Waldbaden, bei dem man ohne Intention einfach in den Wald geht und die zahlreichen Bäume auf sich wirken lässt.


Ausweitung des Personen- und Seelenbegriffs

Zurück zur Eingangsfrage: Menschliche Wesen haben Seelen. Aber hat die Natur nicht auch eine Seele? Stark indigen geprägte Länder wie Neuseeland, Bolivien oder Ecuador erkennen der Natur den legalen Status einer Person zu und gewähren ihr Rechte. So kann ein Fluss als Person verstanden werden oder Pacha Mama, die Erdmutter, als ein Wesen mit intrinsischem Wert und einer Seele.

Ein bolivianisches Mädchen trägt eine Fahne in der Hauptstadt, Bolivien (2012)

Wir brauchen diese Anerkennung und den Schutz verschiedener Wesens- und Seelenvorstellungen, um als unterschiedliche Kulturen respektvoll zusammenleben zu können. Sogar in Deutschland gibt es beispielsweise Versuche, die Isar in ihrer Schönheit und Würde als einen der letzten natürlichen Flussläufe Deutschlands wieder anzuerkennen. In Bayern ist dafür ein Volksbegehren im Gange.


Eine abschließende Frage: Hat ein Buch eine Seele? 

Wenn man dem Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón in seinem Buch Im Schatten des Windes glaubt, hat jedes Buch eine Seele:


"Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und davon geträumt haben. Jedes Mal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedes Mal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten lässt, wächst sein Geist und wird stark."


Mit Hartmut Rosas Worten könnte auch ein Buch ein Resonanzraum sein, wo sich die Seelen des Lesenden und des Schreibenden begegnen und in der Begegnung etwas Neues schaffen. Wenn das Lesen eines Buchs uns zu Tränen rührt, dann kann das der erste Schritt eines resonanten Momentes sein, aus dem wir transformiert hervorgehen und sogar anderen von dieser Erfahrung erzählen. Mein letzter Roman war Die Bücherdiebin, ein Buch, das die Geschichte eines wissbegierigen und starken Mädchens zur NS-Zeit in Deutschland aus der Perspektive des Todes erzählt. Ein Tod, der nicht böse und gierig ist, sondern ein Tod, der die Seelen der Verstorbenen sanft davonträgt und von ihrem Schicksal berührt ist. Auch das ist die Anerkennung einer anderen Sichtweise - dass auch der Tod ein Herz hat, das berührt werden kann.


Autorin: Susanne Müller 

Bei Fragen oder Anmerkungen zum Essay bist du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (s.muellerioer@ioer.de).

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