Responsive Beziehungen: Das Wunder der Verletzlichkeit
Responsive Beziehungen – wie sie der Soziologe Hartmut Rosa in seiner 2016 veröffentlichten Resonanz-Theorie beschreibt – können in jedem Kontext und zwischen verschiedenen Lebewesen bestehen. Während ein beschleunigendes und immer mehr forderndes Wirtschaftssystem stumme Beziehungen fördern soll, in denen wir die Unverfügbarkeit des Lebens nicht respektieren, sind responsive Beziehungen charakterisiert durch gegenseitige Commitments, Vertrauen und Respekt. Sie können sich durch Familienbande, zwischen Freunden oder Tieren, mit Mutter Erde und auch mit einem Liebespartner entwickeln. Letzteres stand besonders häufig im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen.
Normalerweise beginnen viele Liebesbeziehungen mit einem bewussten Gespräch, ab dem zwei Individuen sich offiziell als (liebende) Partner bezeichnen. Damit können gemeinsame Erwartungen an das individuelle Verhalten in der Beziehung festgelegt werden. Allerdings kann eine sich entwickelnde Beziehung auch schon früher mit kleinen Schritten des Vertrauens, der Wertschätzung und der Fürsorge beginnen. So kann es in manchen Phasen der Beziehung an Klarheit über "richtig" und "falsch", an Empathie für die Gefühle des anderen oder ganz allgemein an einer roten Linie in der Beziehung mangeln. Wenn wir nicht anerkennen, dass wir in einer Beziehung sind, können wir die Gefühle und die Freiheit unserer Partnerin verletzen, ohne für unser Verhalten Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung zu übernehmen erfordert Einfühlungsvermögen und Mut: Einfühlungsvermögen mir selbst sowie meinen Bedürfnissen und Grenzen gegenüber und auch den Bedürfnissen und Grenzen meines Partners gegenüber. Und es braucht Mut, kongruent nach meinen inneren Werten und meiner Ethik zu handeln. Was passiert beispielsweise mit einer beginnenden responsiven Beziehung, wenn ich die sich entwickelnde rote Linie meiner Beziehung überstrapaziere, indem ich die Bedürfnisse meines Gegenübers ignoriere oder vernachlässige, ihn/sie abwerte oder sogar das Vertrauen missbrauche? Es könnte an spontanen Momenten der Ablenkung liegen, an der Bewertung der Gesellschaft, vorzugsweise keine "schwachen" Gefühle zu zeigen, an wirtschaftlichem Druck, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, oder einfach an egozentrischem Hedonismus. Meine Partnerin könnte verletzt werden. Durch Vertrauensverlust gegenüber dem Partner kann die Beziehung in eine Krise geraten, die Responsivität kann verloren gehen oder es geht sogar die ganze Beziehung zu Ende. Warum ist das so? Laut Rosa ist Verletzlichkeit eine Bedingung für eine responsive Beziehung: Wir öffnen uns und damit riskieren wir, verletzt zu werden oder selbst zu verletzen.
Aber fördert unsere wachstumsorientierte Gesellschaft kurzfristige Aktionen wie Vertrauensbrüche oder einfach nicht vorsichtig und umsichtig miteinander umzugehen? Die Werbung erzählt uns, dass wir schön sein müssen, um geliebt zu werden, dass wir ein dickes Auto brauchen, um im Leben erfolgreich zu sein oder dass wir die ganze Welt bereisen müssen, um Erinnerungen an vielen Orten zu sammeln. Diesen tauschbasierten Beziehungen scheint zu fehlen, was der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm zu sagen pflegte: Es geht nicht darum, geliebt zu werden, es geht darum, zu lieben. Es geht nicht darum, zu haben, es geht darum, zu sein. Aber was ist mit diesen Langzeit-Werten? Wo werden sie beworben? Lernen wir in der Schule, wie wir auf uns und unsere Geliebten aufpassen? Ich würde eher nein sagen, auch wenn die Wissenschaft erst kürzlich die hieraus resultierenden positiven Auswirkungen auf eine nachhaltige Zukunft aufgezeigt hat. Lernen wir in der Schule, dass wir als Menschen komplett abhängig sind von anderen Lebewesen und der Natur? Bekommen wir Noten dafür, anderen zu helfen und uns um schwächere Mitmenschen zu kümmern? Selten. Unsere Kultur strebt nach Technologisierung und Individualisierung. Nicht, dass daran etwas falsch wäre, aber es geht darum, eine Balance zwischen diesen externen Anstrengungen und inneren Schätzen wie Liebe, Dankbarkeit und Empathie zu finden.
Lasst uns diese Gedanken auf unsere Beziehung mit der Natur übertragen. Natürlich ist es kein Liebesabenteuer, das die sozial-ökologische Krise verursacht. Aber ist unser tägliches Leben nicht voller Versuchungen, die unserer responsiven Beziehung mit der Natur schaden?
Es ist einfacher, einen Flug nach Marokko zu buchen, als mit dem Zug nach Spanien zu fahren. Sehr oft ist es einfacher, etwas Neues zu kaufen, als etwas zu reparieren. Neue Kleidung scheint günstiger zu sein, als Vorhandenes zu pflegen und sehr oft kostet die fleischlose, vegane Alternative in Cafeterien und Restaurants mehr als das hochsubventionierte Kotelett. Wir scheinen nicht zu sehen, zu fühlen oder anzuerkennen, dass wir in einer responsiven Beziehung mit der Natur leben, wir wollen oder können den Schmerz, den wir ihr zufügen, nicht sehen. Vielleicht wurden wir in und von einer Beziehung schwer verletzt oder traumatisiert und jetzt vermeiden wir es, eine neue zu beginnen und bleiben stumm. Manche Menschen wollen unabhängig bleiben, aber ist das möglich? Ist das nicht vielleicht auch ein Weg, um Verbundenheit und mögliche Verletzungen zu vermeiden?
Unsere Welt ist im Moment von einer schweren sozial-ökologischen Krise betroffen und viele Menschen scheinen stumm zu bleiben, scheinen nicht vom Artensterben oder dem Verlust des Regenwaldes berührt zu werden, obwohl wir in einer empfangenden Beziehung mit jedem Baum stehen, der im Regenwald gewachsen ist und jetzt gefällt werden könnte. Wir atmen den Sauerstoff, den Bäume produzieren, wir trinken das Wasser, das einst als Regentropfen auf die Erde gefallen ist, wir essen die Lebensmittel, die durch die Böden genährt wurden und wir sind in der Lage, unsere Gesundheit und die der Welt zu opfern, um von anderen geliebt zu werden.
Es wird Zeit, dass wir unsere tiefe Verbundenheit zu und Abhängigkeit von der Natur anerkennen – was uns vielleicht ängstigt, weil wir damit auch unsere Verletzlichkeit und sogar Vergänglichkeit anerkennen. Aber wie in jeder anderen Liebesbeziehung könnte das Risiko auch ein Wunder enthalten.
Dem kürzlich verstorbenen vietnamesischen Mönch, Friedensaktivist, Autor und Dichter Thich Nhat Hanh zufolge liegt die Schönheit eines Lotus im Schlamm, da die Pflanze tief in ihm verwurzelt ist. Metaphorisch gesprochen, können wir etwas möglicherweise Unangenehmes oder Schwieriges in etwas Schönes verwandeln. Positive Konnotation hat auch das Word Krise in der chinesischen Sprache, das ebenfalls die Möglichkeit auf etwas Neues bedeutet. Obwohl es schwierig oder sogar grausam scheint, der sozial-ökologischen Krise, in der Arten aussterben, Landschaften desertifizieren und Wasser stark verschmutzt ist, etwas Positives abzugewinnen, ist es Zeit, diese Fakten anzuerkennen und sie zu ändern. Dazu müssen wir die Kluft zwischen Handlung und Verstand überbrücken, um die Herzen der Menschen zu erreichen, ihre Verletzungen zu heilen und uns wieder mit der Natur zu verbinden. Das wird weh tun – all den Schmerz zu spüren, den wir der Natur und damit uns selbst zugefügt haben, aber das ist der Weg, um Verantwortung zu übernehmen. Deshalb müssen wir Trauer, Wut, Hass und Traurigkeit zulassen, um die Wunden der Erde zu heilen, wie wir es mit unseren geliebten Freunden und Partnern tun, und indem wir die Verantwortung übernehmen, stellen wir sicher, dass wir uns jetzt und in Zukunft um unsere Erde und unser Zuhause kümmern. Wie dies geschehen kann, können wir aus verschiedenen Formen lernen, beispielsweise durch Gespräche mit Freundinnen, durch den Besuch von geliebten Orten, durch die Pflege eines vernachlässigten Tieres oder einer Pflanze oder auch durch das Sehen eines Therapeuten, da ökologische Fragen in der Psychotherapie immer mehr an Bedeutung gewinnen, wie mir kürzlich ein Psychologists-for-future-Aktivist sagte. Hier möchte ich den Film "Alles steht Kopf" empfehlen, aus dem man über Gefühle und Bedürfnisse lernen kann. Der Animationsfilm vermittelt psychologisch fundiertes Wissen darüber, wie wir die Welt erleben und welche Rolle unsere Gefühle dabei spielen. Indem wir unsere Emotionen achtsam kennenlernen und ihre Bedeutung und Aufgabe für unser Leben schätzen lernen, können wir in intrapersonelle Resonanzbeziehungen treten – sozusagen in eine Resonanzbeziehung mit uns selbst (was Psychotherapeutinnen bei schweren Themen und Wunden tun). Das kann uns helfen, selbstwirksam zu handeln, da wir wissen, wonach jede Emotion strebt, wie wir auf sie responsiv reagieren und uns darum kümmern können. Auf diese Weise könnten wir die innere Dimension in Handlungen und konkretem Verhalten umsetzen: Unsere Bedürfnisse in der Beziehung zu anderen einfordern, die gleichen Emotionen in meinem Partner wertzuschätzen und ihm oder ihr dadurch zu erlauben, sich zu öffnen und verletzlich zu werden. Dies könnte dann zu einer Offenheit führen, mit der wir auf die Bedürfnisse der Natur und ihre Verletzlichkeit reagieren.
Autorin: Susanne Müller
Übersetzung: Henrike Stölting
Bei Fragen oder Anmerkungen zum Essay bist du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (s.mueller). @ioer.de
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