URBNANCE

Urbane Mensch-Natur Resonanz für eine Nachhaltigkeitstransformation

URBNANCE Blog

Erste Erkenntnisse zu urbanen Mensch-Lebensmittel-Beziehungen durch die Interaktion mit Stadtbewohner*innen in Dresden

Nehmen wir uns jemals die Zeit, über die Beziehung nachzudenken, die wir zu den Lebensmitteln haben, die wir jeden Tag essen; zu den Lebensmitteln, die die Natur uns Menschen zur Verfügung stellt; zu den Lebensmitteln, die von anderen Mitglieder*innen der Gesellschaft für uns angebaut werden? Um die individuellen Mensch-Lebensmittel-Beziehungen von Stadtbewohner*innen näher kennen zu lernen, habe ich mich mit Menschen aus Dresden unterhalten, die bereits auf die eine oder andere Weise tief mit Lebensmitteln verbunden sind. Durch die Durchführung von Fokusgruppen wollte ich vor allem die individuellen Beziehungen der Teilnehmenden betrachten, aber auch inwiefern das städtische Umfeld uns helfen und manchmal auch hindern kann, die von uns angestrebten nachhaltigen Konsumverhaltensweisen zu verwirklichen. Diese Wechselbeziehung zwischen den Stadtbewohner*innen als Individuen und der städtischen Umwelt, den institutionellen Strukturen und dem übergeordneten globalen Lebensmittelsystem ist dabei von entscheidender Bedeutung, um nicht nur die gegenwärtigen Konsumgewohnheiten zu verstehen, sondern auch um Transformationspfade hin zu nachhaltigeren und gerechteren Entscheidungen zu ergründen. Entscheidungen, die nicht nur gut für uns Menschen sind, so dass wir uns genährt und glücklich fühlen, sondern auch gut für die Natur und die nichtmenschlichen Tiere.

Wie Hartmut Rosa in seiner Resonanztheorie sagt, geht der "Weltbezug (...) nicht zuletzt über den Mund" (Rosa, 2019, S. 103). Die "Welt wird also unaufhörlich und im wahrsten Sinne des Wortes durch unseren Körper verarbeitet. Es gibt keine elementarere und keine durchlässigere Form der Weltbeziehung." (Rosa, 2019, S. 100). Dennoch ist die Nahrungsaufnahme oft eine Notwendigkeit, der wir im stressigen Arbeitsalltag nachgehen müssen. Obwohl das Essen und unsere Beziehung zur Nahrung eine der natürlichsten Beziehungen ist, die wir mit der Natur und unserem eigenen Körper haben können, ist in dem heutigen westlichen Lebensstil nicht die Freiheit vorhanden, uns dieser Beziehung hinzugeben, um unserer Intuition für eine gesunde, gerechte und köstliche Ernährung zu folgen. Teure Bioprodukte, hochproduzierte Lebensmittel, Fast-Food-Restaurants an jeder Ecke, Schönheitsideale, absurde Mengen an Zucker und Fleisch überall und jeden Tag - diese Umstände machen es uns nicht leicht eine natürliche und intuitive Beziehung zum Essen aufzubauen.

 

 

Workshop-Umgebung und Catering im Palais Café und Garten

Dennoch gibt es bereits einige Menschen, die es schaffen sich mit ihrem Essen (wieder) zu verbinden. Diese Menschen wurden zu den Fokusgruppen-Workshops im wunderbaren Zero-Waste Palais Café und Garten in Dresden eingeladen, um meine erste empirische Phase zu unterstützten. Dabei habe ich das Ziel verfolgt eine erste Vorstellung davon zu bekommen, was urbane Mensch-Lebensmittel -Resonanz bedeuten könnte. Durch das Verteilen von Flyern in Bio-Supermärkten, in veganen und vegetarischen Cafés und Restaurants, aber auch durch Einladungen an lokale Projekte und Vereine in Dresden, die sich für nachhaltigere Formen des Lebensmittelkonsums in der Stadt einsetzen, konnte ich die gewünschte Zielgruppe ansprechen. In diesen Workshops wurden viele Fragen gestellt, die die Teilnehmer*innen von ihrer inneren zu ihrer äußeren Dimension führten. Dabei haben wir auch kleinere Interventionen eingebaut, um die Teilnehmer*innen in die richtige Stimmung zu bringen und ihnen zu helfen, sich zu fokussieren und kreativ über ihre individuellen Beziehungen zwischen Mensch und Lebensmittel in der Stadt nachzudenken und zu fühlen.

Insofern ging es in der ersten Phase des Workshops nicht nur um vermeintlich oberflächliche Beweggründe für eine nachhaltige Ernährung wie die ökologischen und sozialen Auswirkungen des derzeitigen Ernährungssystems, sondern ebenfalls um tiefe Aspekte der inneren Dimension. Was berührt, erschüttert und bewegt uns, wenn wir über unsere eigene Ernährungsweise nachdenken, aber auch über die generelle Art und Weise, wie Lebensmittel im hochindustrialisierten Teil dieser Welt produziert, transportiert und behandelt werden? Mara* hat dabei zum Beispiel gesagt:

"Manchmal ist es so mit bestimmten Geschäften ... man ist sprachlos. Die Massen, die dort verschenkt werden. Die Massen. Und warum leben wir in so einer Welt? Das macht mich so wütend, dass im Prinzip immer alles da sein muss. Die Supermärkte müssen immer voll sein, damit die Leute das Gefühl haben, sie bekommen immer alles. Das macht mich wütend. Diese Verfügbarkeit, die macht mich sprachlos. Wirklich sprachlos."

Die massenhafte Verschwendung und die ständige Verfügbarkeit aller erdenklichen Lebensmittel wurden in vielen Fokusgruppen diskutiert. Die Teilnehmer*innen wiesen aber auch auf den Horror hin, den Tiere erleiden müssen, um zu unseren Lebensmitteln zu werden und welche Auswirkungen diese Produktionsweisen auf die Umwelt haben. Dabei wurden auch soziale Ungerechtigkeiten und unzumutbaren Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelproduktion erwähnt sowie der Hunger, unter dem viele Menschen immer noch leiden. Dem entgegen stand die weitverbreitete Ignoranz und das egoistische Verhalten privilegierter Mitglieder*innen der Gesellschaft, wenn es um ihr Konsumverhalten geht, was für viel Unmut gesorgt hat in den Gruppen. Die Teilnehmer*innen konnten dabei auch spezifische Gefühle und Emotionen sowie transformative Erfahrungen, Momente und Begegnungen benennen, die ihnen den Weg zu einem nachhaltigeren Verhältnis zu Lebensmitteln ebneten und dabei bereits viele Aspekte rund um die äußere Dimension ansprechen. Eloise sagte zum Beispiel:

"Ich habe das Buch Tiere essen gelesen. Ich glaube, das ist acht Jahre her und als ich es damals las, war ich irgendwie schockiert. Ich meine, irgendwie war ich schon mit Fotos von Massentierhaltung vertraut und es schien mich vorher nie so sehr berührt zu haben, aber es zu lesen und mich wochenlang damit zu beschäftigen war irgendwie extrem. Und dann bin ich Vegetarierin geworden."

Juliane fügte hinzu:

"Ich glaube was für mich ein totaler Knackpunkt war, war als ich angefangen habe für mich selbst zu kochen, weil ich finde, es ist ein Unterschied für mich, ob das Fleisch noch roh ist oder schon gekocht. Ich erinnere mich genau, dass ich irgendwann, ich glaube das erste Mal eine Gans oder ein Huhn gemacht habe. Und ich habe mich unglaublich geekelt und konnte es nicht anfassen, weil ich das Gefühl hatte, dass da ein nackter toter Körper vor mir liegt."

Und Alma sagte:

"Also ich glaube bei mir war es nicht ein einzelner Punkt, sondern eher der Einfluss von Menschen in meinem Umfeld. Sei es meine Oma, die alles in ihrem Garten anbaut und einkocht und einen ganzen Keller voller Marmelade hat oder meine Mutter, die immer Tomaten anbaut oder eine Freundin, die Vegetarierin geworden ist und dann bin ich selbst Vegetarierin geworden. Ich glaube bei mir ist es einfach ... nicht unbedingt abhängig, aber ich bin sehr stark von Menschen in meinem Umfeld beeinflusst worden."


Emotionensammlung der Teilnehmenden zur inneren Dimension

In der zweiten Phase lag der Schwerpunkt auf äußeren Faktoren, die die Art und Weise wie wir essen beeinflussen. Die Teilnehmer*innen wurden gefragt, wie sie ihre Lebensmittel beziehen und aus welchen Gründen sie genau diese Art der Nahrungsbeschaffung wählen. Wer oder was unterstützt sie bei ihrer derzeitigen Ernährungsweise und welche Strukturen erschweren es ihnen, ihrer Wahl der Ernährung treu zu bleiben? Bei den Gesprächen über die städtische Infrastruktur wurde häufig die Verfügbarkeit nachhaltiger Alternativen beim Einkaufen, aber auch lokale Initiativen und Veranstaltungen angesprochen, die Informationen und spielerische Möglichkeiten zum Umgang mit Lebensmitteln bieten. Welche Supermärkte gibt es in unmittelbarer Nähe oder gibt es eine Foodsharing-Station in der Nähe? Aber auch die Raumnutzung im städtischen Umfeld wurde diskutiert, welche nachhaltige Konsumformen oft nicht ohne weiteres zulässt, zum Beispiel der Mangel an Grünflächen für urbane Landwirtschaft.

Darauf wies Lola hin:

"Ich habe vorhin gesagt, dass es in der Stadt viel einfacher ist, sich nachhaltig zu ernähren, aber ich denke, es kommt immer darauf an, was einem wichtig ist, und ich denke, dass es auf dem Dorf zum Beispiel viel mehr Platz für die Menschen gibt, viel mehr Platz, um zum Beispiel selbst etwas anzubauen. Es gibt viel mehr Platz für Nachbarn mit Hühnern oder so, wo man seine Eier oder was auch immer bekommen kann. Oder vielleicht gibt es einen Milchbauern im Dorf, bei dem man wirklich frische Milch bekommen kann. Wenn es das gibt, ist das Essen aus dem Dorf einfach viel cooler, weil man dann wirklich weiß, woher es kommt. Das habe ich in der Stadt einfach nicht. Also hier gibt es einfach keine Landwirtschaft mitten in Dresden, es gibt keine Milchbauern oder so, das ist alles in den Dörfern drum herum."

Die äußere Dimension stellte auch die sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt. Sie wurden sowohl als vorteilhafte Aspekte im Leben der Teilnehmer*innen betrachtet, da Familie und Freund*innen sie bei der Wahl ihrer Lebensmittel, beim Kochen veganer Mahlzeiten und beim Ausprobieren neuer Dinge unterstützen. Nicht selten wurde das soziale Umfeld jedoch auch als Stressfaktor empfunden. Die Werte, Weltanschauungen und Entscheidungen der Teilnehmer*innen wurden und werden oft in Frage gestellt. Einige fühlten sich schuldig und frustriert und werden teilweise dazu gedrängt, sich an die üblichen Konsumgewohnheiten anzupassen, wobei die skurrile Normalisierung der brutalen Bedingungen in der Fleischproduktion oftmals eine Rolle spielte. Dieses Auf und Ab, diese Hindernisse, aber auch Möglichkeiten der Unterstützung boten viele interessante Ansatzpunkte für transformative Interventionen.

Hier sagte Jodie:

"Es spielt für mich tatsächlich eine Rolle, dass ich auch in so einer Blase bin, wo viele Leute sich bewusst ernähren und wo ich nicht jedes Mal eine Grundsatzdiskussion führen muss, warum ich kein Fleisch esse oder warum wir als Freunde kochen, anstatt Sachen aus der Tiefkühltruhe zu holen und in den Ofen zu schmeißen, weil das so normal ist und das macht es mir natürlich leichter, das einfach durchzuziehen, weil ich mich nicht jedes Mal rechtfertigen muss. Ja, das ist so eine Normalität geworden. Das ist einfach schön."

Äußere Einflüsse zur Mensch-Lebensmittelbeziehung und Einführungsintervention

Die verschiedenen Interventionen, die während der Workshops eingesetzt wurden, bewirkten eine angenehm aktive, aber auch tiefgründige Atmosphäre in den verschiedenen Fokusgruppengesprächen. Bei der Auswahl von Gemüse zur Auflockerung der Einführungsrunde knüpften die Teilnehmer*innen an einige Kindheitserinnerungen an. Die angeleitete Meditation zwischendurch sorgte für eine konzentrierte, aber auch ruhige Stimmung. Am Ende der Workshops wurden die Teilnehmer*innen gebeten, eine Postkarte auszuwählen, auf der sie die wichtigsten Aspekte einer nachhaltigen Beziehung zwischen Mensch und Lebensmittel in der Stadt aufschreiben, über ihre Erfahrungen im Workshop nachdenken und über das, was sie über sich selbst und andere gelernt haben. Diese Postkarten wurden im Anschluss mit nach Hause genommen zur Erinnerung daran, dass sich die Workshop-Teilnehmer*innen wirklich die Zeit genommen haben, über die Beziehung zu den Lebensmitteln nachzudenken, die sie jeden Tag essen; zu den Lebensmitteln, die die Natur uns Menschen zur Verfügung stellt; zu den Lebensmitteln, die von anderen Mitglieder*innen der Gesellschaft für uns angebaut werden.

Diese Workshops haben mich wirklich berührt. Jeder Workshop war einzigartig, die Menschen waren offenherzig und wohlwollend zueinander. Ich habe viel Hoffnung, Motivation und Antrieb mitgenommen, aber auch eine innere Zufriedenheit und Gelassenheit mit meiner persönlichen Wahl des Lebensmittelkonsums und vor allem viel Dankbarkeit dafür, dass ich an diesem wichtigen Thema forschen darf.

Diesbezüglich sagte Philipp:

"In dem Moment, in dem ich anfange, darüber nachzudenken und das Gefühl habe, Teil von etwas zu sein. Da bleibt eigentlich nicht mehr viel Raum, als zu schauen... was esse ich? Wie bewege ich mich? Wie erlebe ich mich in dieser Welt als Teil von ihr? Und dieser Prozess, der auch persönliche Reife bedeutet, ist der größte Antrieb."

Autorin: Mabel Killinger

Bei Fragen oder Anmerkungen zum Essay bist du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (m.killingerioer@ioer.de).


* Die Namen der Teilnehmenden wurden pseudonymisiert.



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2021

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Nurturing our relation with nature and ourselves in the dark season