URBNANCE

Urbane Mensch-Natur Resonanz für eine Nachhaltigkeitstransformation

URBNANCE Blog

Flötenspiel (1940) von Hermann Hesse:
eine resonanzspezifische Analyse und Einbettung in den Nachhaltigkeitskontext

Einführung

Wohl kaum ein anderer deutschsprachiger Literat vermag es, durch seine Schriften seine Leser*innen so zu berühren wie der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse (1877-1962). Sei es durch seine stark autobiographisch geprägten Werke wie Unterm Rad (1906), der spirituellen Sinnsuche des Lebens in Siddhartha (1922) oder aber auch einfach durch seine facetten- und ereignisreiche Biographie. Neben seinem kreativen Geist, der ihn bereits im Alter von 10 Jahren seine ersten Märchen schreiben ließ, kannte Hesse auch emotionale Tiefen, die ihm sich zeitlebens mit sich selbst, der Welt und anderen Menschen auseinandersetzen ließen. Sein überlieferter Selbstmordversuch im Jugendalter seine Werke vermögen darauf hindeuten, dass er sich der Fragilität des Lebens bewusst war.

Hesse’s Lebensphase in der Klosterschule Maulbronn


Trotz aller Schwere, die sein Leben mitunter mit sich brachte, und auch im Angesicht der schwierigen Zeit, in der Hesse das oben verlinkte Gedicht Flötenspiel verfasste – 1940 –, ist es meines Erachtens erfüllt von einem Vertrauen in das Leben, einer tiefen Verbindung mit sich, der Natur und der Weltenseele. Diesen Resonanzdraht, diesen „vibrierenden Draht zwischen Subjekt und Welt“ (Rosa, 2019, S. 279) im Sinne Hartmut Rosa’s Resonanztheorie, möchte ich in den folgenden Absätzen nachzeichnen und anschließend in den Nachhaltigkeitswissenschaften verorten.

 

Resonanz in den einzelnen Strophen des Gedichtes

1)

Die erste Strophe des Gedichts offenbart ein Haus bei Nacht, das umgeben von Natur kaum auszumachen ist. Es existiert eine Balance zwischen Gebautem und der natürlichen Umgebung, in der diese nicht durch die gebaute Massivität gestört wird, sondern ein Fenster nur sanft im Mondlicht schimmert. Diese fast zärtliche Resonanz des Mondes durch das gebaute Fenster vermag das Licht in unterschiedliche Richtungen verbreiten und indirekt den Flötenspieler visuell ankündigen, der ansonsten im "unsichtbaren Raum" verbleibt. Es entsteht kein überpräsentes Bild des Menschen und er verbleibt im Hintergrund des Geschehens. In den Vordergrund tritt er indirekt mit etwas anderem: mit seiner liebenden Verbindung zur Welt.

Schimmerndes Licht bei Nacht

2)

Der Flötenspieler spielt ein Lied, einen zeitlosen Inhalt, der "gütig" in die Nacht fließt und eins mit ihr wird. Dem Lied wird Agency zugesprochen, die Fähigkeit mit eigener Stimme zu sprechen. Das Attribut gütig als ein relationaler Wert steht für ein liebevolles und sanftes Miteinander, ein Miteinander, welches den Flötenspieler mit allem anderen verbindet. Indem das Lied fließt, entsteht ein organisches Bild, das einem Fluss gleicht, welcher sich seinen Weg in der Welt sucht. Der Flötenspieler wird zu seinem Lied, Musik wird zu Wasser, Wasser zu Ewigkeit – (Transformationen und Aneignungen, die nun auch zunehmend durch Studien im wissenschaftlichen Kontext untersucht werden). Und diese Ewigkeit unterscheidet nicht in Ländergrenzen, das sinnliche Heimatgefühl umschließt die gesamte Erde, der Flötenspieler ist ein Erdenbürger. Die letzte Zeile der zweiten Strophe äußert Erstaunliches und offenbart Kernaspekte von Resonanz – Vertrauen und Selbstwirksamkeit. "Als wäre jeder Weg vollbracht" zeugt von Zuversicht in einen bestehenden Resonanzdraht, dass Dinge gut werden und die Ziele des Flötenspielers in Erfüllung gehen, wodurch er es vermag, sich somit "in einer antwortenden, entgegenkommenden Welt getragen oder sogar geborgen zu fühlen" (Rosa, 2010, S. 59, kursiv im Original).

3)

In der dritten Strophe findet eine Synchronisierung des Weltensinnes mit dem Atmen statt. Eine Integration des Kopfes, des Körpers und der Seele – sie alle fließen im Atem zusammen. Zwar können wir als Menschen den Atem über den Kopf zeitweise steuern, beherrschen können wir ihn nicht, weswegen z. T. in körpertherapeutischen Verfahren auch davon gesprochen wird, dass es atmet (Rosa, 2019, S. 99, kursiv im Original). Auch der Atem und wofür er steht, erhält Agency: Er ist für uns da und sorgt für uns, wie es bereits auch Goethe in seinem Gedicht Im Atemholen sind zweierlei Gnaden ausgedrückt hat. Und wir Menschen öffnen uns dem Atem und lassen ihn wieder gehen. Indem sich der Weltensinn gezeigt hat, kann das Herz vertrauen und sich ebenfalls zeigen und in Resonanz mit allem gehen, das ist.

 

Resonanz, Kunst und Nachhaltigkeit

Der resonante Beziehungsmodus zur Welt, der die Dimensionen des Herzens, des Geistes und des Körpers umfasst, wird durch Hesse’s Flötenspieler vermittelt. Insbesondere die Sinnlichkeit und die Nähe der Kunst zum Herzen und dem Weltensinn treten hierbei besonders hervor und verdeutlichen die Wichtigkeit dieser inneren Dimensionen, um sich individuell in Verbindung zu setzen. Die gegenwärtigen Betonungen der Nachhaltigkeitswissenschaft, den Blick wieder vermehrt nach Innen hinzuwenden, um destruktive Haltungen zu identifizieren und zu transformieren, vermögen durch berührende Kunst unterstützt werden. Dem widmen sich derzeit vermehrt auch kunstbezogene Wissenschaftler*innen, welche die Bedeutung künstlerischen Schaffens darin begreifen, bestehende Routinen und Gedankenstrukturen zu durchbrechen.


Berührende Integration von Geist-Körper-Herz durch verschiedene Ausdrucke (hier: ein öffentliches Kunstprojekt in Wien)


Die Überwindung der einseitigen Mensch-Natur-Dominanz sowie die wertschätzende Wiederverwebung mit der Natur stehen im Zentrum unseres Resonanz-Projektes. Hierbei versuchen wir u.a. die Dimensionen Herz, Körper und Geist zu adressieren, um Berührung integrativ zu denken und praktisch mithilfe von Interventionen und Transfers zu ermöglichen. Dieser Blog stellt hierbei eine Brücke da, um verschiedene Wissensformen zum Ausdruck zu bringen und z. B. dem Essay oder der Lyrik als Vertreter*innen der Kunst auch eine Stimme zu geben (dass sie eine "eigene, widersprechende Stimme" hat, darin ist sich Rosa (2019, S. 499) gewiss). Denn wie der Transformationsforscher Norbert Koppensteiner (2018) erläutert, unterscheiden sich Herz und Geist in ihrem schriftlichen Ausdruck. Eine Wiederverbindung dieser vermag eine friedvolle Integration der unterschiedlichen Anteile und Stimmen fördern – in uns selbst und der Welt.


Autorin: Susanne Müller

Bei Fragen oder Anmerkungen zum Essay bist du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (s.muellerioer@ioer.de).

 

 



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