URBNANCE

Urbane Mensch-Natur Resonanz für eine Nachhaltigkeitstransformation

URBNANCE Blog

Ein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit in Zeiten der Ohnmacht.

Sorge um die Natur in der Stadt.

 

Anfang August wurde ich an der Tür meines Wohnhauses mit einem kleinen Zettel überrascht:

"Liebe NachbarInnen,

die jungen Bäume auf den Johannstädter Elbwiesen brauchen weiterhin dringend unsere Hilfe.

Aus diesem Grund bitten wir Euch, uns beim Gießen jeden Donnerstag ab 20:00 Uhr zu unterstützen

(…)

Gedacht ist es, eine Gießkannen-Kette von der Elbe zu den Bäumen zu organisieren. Es wäre gut, wenn Jeder einen Eimer oder eine Gießkanne mitbringen kann."


Nun, das hat mich in vielerlei Hinsicht sehr berührt. Ich spaziere jeden Tag mehrmals über die Elbwiesen, wenn ich mit Amos "meinem" Hund draußen bin. Die Wiesen sind Orte, an denen ich mich hinsetze und die Natur beobachte, Sport treibe oder mich mit Freund*innen hier in Dresden treffe. Manchmal naschen Amos und ich auch ein paar Äpfel und andere Früchte, die dort wachsen. Im Jahr 2018 wurden auch einige neue Bäume gepflanzt, um die bereits bestehende Streuobstwiese mit Pflaumen, Kirschen, Birnen und Äpfeln zu bereichern. Diese jungen Bäume, die erst ein Jahrzehnt alt sind, brauchen natürlich mehr Pflege, da ihre Wurzeln noch dabei sind, ihren Weg durch die Erde zu finden, die sie mit ihrer Umgebung verbindet. Sie müssen sich erst an die Bedingungen des Bodens, das umgebende Klima, die Geräusche der Straße, die Luft und die Tiere in ihrem Umfeld, mit denen sie ihren Lebensraum teilen, gewöhnen. Da wir hier in Deutschland, aber auch in ganz Europa und der Welt wieder einmal neue Rekorde von extremer Hitze und Trockenheit erleben, habe ich im Laufe des Sommers miterlebt, wie sehr die Bäume auf den Elbwiesen gelitten haben und vermutlich immer noch leiden. Die Blätter wurden braun, rollten sich ein und die Rinden wurden immer brüchiger. Auch ich habe die hohen Temperaturen auf der Haut gespürt, habe versucht, so viel wie möglich im Schatten zu laufen, den Staub aufgewirbelt, während ich meine Füße über die hitzevibrierenden Wege schleppte und mir gewünscht, es möge doch endlich wieder regnen.

Einladung zur Gießaktion an den Johannstädter Elbwiesen


Ich erinnere mich noch an einen Tag im Juli, an dem ich frühmorgens von einem seltsamen Geruch geweckt wurde. Ich dachte schon, dass es im Garten oder in der Nachbarschaft brennen würde, nur um dann feststellen zu müssen, dass der Wald in der Sächsischen Schweiz an der Grenze zwischen Deutschland und Tschechischen jetzt auch brennt und dass ich hier in der Stadt buchstäblich riechen kann, wie die Bäume dort sterben. In der Wissenschaft "argumentieren Forscher, dass die Wahrnehmung des Klimawandels [als] "psychologisch distanziert" die Wahrscheinlichkeit verringert, sich mit der Realität und den Auswirkungen des Klimawandels auseinanderzusetzen, was somit das Potenzial hat, die Unterstützung für Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und sogar für adaptives Verhalten zu verringern" (McDonald et al., 2015, p. 110). Das war oder ist vielmehr, so denke ich, für viele Menschen im globalen Norden eine gängige Wahrnehmung des Klimawandels. Doch mit Ereignissen wie der Überschwemmung des Ahrtals in Deutschland im Jahr 2021 und den riesigen Waldbränden, denen 660.000 Hektar Bäume in ganz Europa bereits zum Opfer fielen, oder den ausgetrockneten Flüssen wie der Loire in Frankreich, lässt das Jahr 2022 die Menschen wirklich spüren, was der Klimawandel bedeutet. Die Natur und ihre Wasserströme, ihre Pflanzen leiden, aber auch die Tiere, die in diesen Gebieten leben, werden ihrer Heimat beraubt, und ich bin davon betroffen – es berührt mich.

Johannstadt Bewohner*innen in Aktion


Und mit all dem kommt dieses große Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Ich verspüre permanent einen Drang, in Aktion zu treten, sich wieder selbstwirksam zu fühlen, wirklich etwas zu tun und etwas zu bewirken. Genau so beschreibt es Hartmut Rosa in seiner Theorie der Resonanz. So entstehen resonante Momente nicht nur aus einer emotionalen Betroffenheit heraus, sondern es muss nach dem Moment des Berührtseins eine selbstwirksame Reaktion geben, bei der wir jemanden berühren und bewegen, was Resonanz zu einem aktiven und nicht passiven Zustand macht. So habe ich diese kleine nachbarschaftliche Einladung vor meiner Haustür als Gelegenheit etwas zu tun sehr begrüßt, auch wenn es nur eine kleine Sache zu sein scheint. Am darauffolgenden Donnerstag nahm ich zwei Gießkannen und ging zum vereinbarten Treffpunkt, wo bereits 30 Menschen dabei waren Wasser aus dem Fluss zu holen, um die jungen Bäume auf den Wiesen zu nähren. Schnell wurden zwei Gruppen gebildet, die Wasserholer*innen und die Wassergießer*innen, die ein gut funktionierendes Team bildeten. Die Helfer*innen kamen mit Lastenrädern und Handkarren an, um größere Mengen Wasser zu transportieren. Nach nur 1,5 Stunden hatten wir alle jungen Bäume auf der Streuobstwiese bewässert. Neben meinem eigenen Gefühl von Selbstwirksamkeit, was sich durch das Gießen der Bäume eingestellt hat, kam durch die Gruppenaktivität mit Gleichgesinnten ein Gemeinschaftsgefühl hinzu. Dabei hörte ich eine andere Person sagen: "Das macht so viel Sinn, ich könnte weinen. Bei all den schlimmen Waldbränden..." und eine andere Person sprach zu einem Baum und sagte: "Hier, Kleiner. Trink aus!".

Ein junger grüner Apfelbaum, nach dem erhofften Regen


In der darauffolgenden Woche folgte ich erneut der Einladung zum Gießen der Jungbäume, wobei ich weitere resonante Momente beobachtete und erlebte durch diese einfache und verbindende Praxis des Gießens der durstigen Bäume hier in der Stadt Dresden. Neben dem zuvor beschriebenen Gefühl der Ohnmacht wuchs ein Gefühl der Hoffnung und Gemeinschaft. In den letzten zwei Wochen fiel wieder Regen über Dresden und dafür war ich sehr dankbar. Schon nach zwei Tagen ist das Grün auf den Wiesen explodiert, die Bäume haben sich wieder gestreckt und der Boden ist feucht und stabil. Aber noch immer kümmern sich die Bewohner*innen der Johannstadt um die Bäume und prüfen, ob diese Wasser brauchen und ich finde, das ist eine sehr schöne Art und Weise, um mit der Natur in Kontakt zu treten.

Autorin: Mabel Killinger

Bei Fragen oder Anmerkungen zum Essay bist du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (m.killingerioer@ioer.de).



2024

Februar

Mit Freude geben und nehmen – Impulse von Robin Wall Kimmerer über eine positive Partnerschaft mit der Natur

Januar

"Und wie sieht deine Welt aus?"
Gesellschaftliche Formierungen von Weltbildern und ihre Wandelbarkeit dank psychischer Flexibilität.
Plus: abschließende Tipps von Maude


2023

Dezember

Indigene Weltanschauungen als ernstzunehmende Utopie? – Über den Wandel von Weltbildern und das, was wir als Weltgemeinschaft von indigenen Weltanschauungen lernen können

Oktober

Natur auf Augenhöhe begegnen – ein explorativer Spaziergang durch die Gärten von Schloss Trauttmansdorff in Meran

Juni

Mit dem Herzen schauen – Über individuelle Mensch-Natur-Resonanz, ein gemeinsames Dilemma mit Antoine de Saint-Exupéry sowie eine nachhaltigkeitsbezogene Erklärung an die Leser*innen

Patagonien – ein Ort für resonante Beziehungen?

Mai

Demut vor der Unverfügbarkeit des Schlafes – Über Zyklen, Schlafrituale und Mutter Erde

Februar

Wo ist die Liebe?
Skizzen der Verwunderung, des Selbstmitgefühls und eines Mutmachers angesichts multipler Krisen


2022

November

Der Natur unsere Stimme leihen – im Rollenspiel auf der Suche nach Partnerschaften mit der Natur

Oktober

Von Krise zu Resonanz: ein Sommerkino

September

Ein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit in Zeiten der Ohnmacht.
Sorge um die Natur in der Stadt.

Juli

Die Unverfügbarkeit einer eigenen Stimme. Was will Amos wirklich "sagen"?

Juni

Flötenspiel (1940) von Hermann Hesse: eine resonanzspezifische Analyse und Einbettung in den Nachhaltigkeitskontext

Mai

Erste Erkenntnisse zu urbanen Mensch-Lebensmittel-Beziehungen durch die Interaktion mit Stadtbewohner*innen in Dresden

In mir ‒ in uns

März

Responsive Beziehungen:
Das Wunder der Verletzlichkeit

Januar

Liebende Seelen – liebende Herzen


2021

Dezember

Christmas ‒ eating in the spirit of the feast of love?

Nurturing our relation with nature and ourselves in the dark season