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Patagonien – ein Ort für resonante Beziehungen?

 

Wie es zu einem Essay über Resonanz im chilenischen Patagonien kommt

Im August 2022 habe ich angefangen, als wissenschaftliche Hilfskraft im URBNANCE Projekt mitzuarbeiten und bin noch im gleichen Monat nach Chile gezogen. Meine Arbeit für URBNANCE hat darum im Kontext Chiles stattgefunden und es sind Schnittstellen zwischen den Inhalten des Projekts und meinen Erlebnissen in Südamerika entstanden. Zum Beispiel hat es mir der Hintergrund der Resonanztheorie von  Hartmut Rosa (2019) ermöglicht, meine Erfahrungen in Chile neu zu interpretieren und in diesem Essay möchte ich einen Teil dieser Reflexionen mit euch teilen.

Chiles Vielfalt und ihr resonanzbezogener Widerschein

Chile ist ein unheimlich kontrastreiches Land. Es beherbergt einerseits Orte, die so entlegen sind, dass menschliche Einflüsse sie kaum erreichen, und andererseits die von Menschen überquellende Hauptstadt Santiago. Chile ist eines der längsten Länder der Welt und zwischen seinen nördlichsten und südlichsten Punkten liegen über 4.300 km. Auf Europa übertragen reicht die Länge Chiles damit über den Norden Norwegens und den Süden Spaniens hinaus. Gleichzeitig leben über 6 Millionen Menschen und somit fast die Hälfte der Chilen*innen in der Metropolregion Santiagos. Dies bedingt, dass der südlichste Raum Chiles kaum besiedelt ist und die Natur dort nur wenige menschliche Interventionen erlebt hat. Dort befindet sich die Region Patagonien, in die ich von Santiago aus nach etwa 17 Stunden Bus- und 30 Stunden Fährfahrt gelangt bin. Zwischen Santiago und Patagonien liegen nicht nur etliche Kilometer und Reisestunden, sondern auch Welten, was die Atmosphäre der Orte betrifft.

 

Santiago de Chile


Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich bereits von meiner Reise zurückgekehrt und befinde mich wieder in Santiago. Um mich herum sind eine Menge Menschen, alles passiert sehr schnell, ich kann den Lärm des Verkehrs hören, sehe viel Beton und die Luft riecht nach Abgasen. Ich bin mit meinem Fahrrad in ein Café in der Innenstadt gefahren und musste auf dem Weg sehr wachsam sein, um sicher ans Ziel zu kommen. In mir kommt der Verdacht auf, dass dies meine Art und Weise zu denken beeinflusst und ich diesen Essay anders begonnen hätte, wenn ich ihn von Patagonien aus geschrieben hätte. Vermutlich mit weniger Kennzahlen, Maßen, Vergleichen und sachlichen Begriffen. Ich stelle mir vor, dass ich mehr Ruhe zum Nachdenken gehabt hätte und mich dadurch vielleicht bildhafter und persönlicher ausgedrückt hätte, anstatt schnell zu recherchieren und Ziffern zusammenzutragen. Möglicherweise hätte ich mich an der schwierigen Aufgabe versucht, die magische Atmosphäre Patagoniens in Worte zu fassen, um euch Lesenden daran teilhaben zu lassen. Vielleicht hätte euch das berührt und zwischen uns wäre ein Moment der Resonanz entstanden.

 

Nichtmenschliche Natur der Insel Chiloé


Ich fasse Resonanz im Sinne der Resonanztheorie von Hartmut Rosa (2019) auf. Rosa hat sich ausführlich mit Beziehungen beschäftigt und für ihn sind resonante Beziehungen eines Menschen zu seiner Umgebung zentral für ein gutes Leben. In seiner Resonanztheorie beschreibt er, dass die unserer Gesellschaft zugrundeliegende Beschleunigungslogik dazu führt, dass wir stumme Beziehungen mit unserer Umwelt eingehen. Stumme Beziehungen basieren auf einem instrumentellen Denken. Die Beziehungspartner*innen werden als Ressourcen betrachtet, die kontrolliert, ausgebeutet und dominiert werden können. Dem gegenüber stehen resonante Beziehungen. Resonante Beziehungen sind frei von Dominanz und instrumentellen Denkweisen. In diesen sprechen die Beziehungspartner*innen laut Rosa „mit ihrer eigenen Stimme“, geraten in Schwingung miteinander und transformieren sich sowie ihre Beziehung. Im Kontext von Mensch-Natur Resonanz bedeutet dies, dass nichtmenschliche Natur, sei es Bäume, Steine oder das Meer, mit eigner Stimme spricht. Dies gelingt nur, wenn wir sie nicht als leblose Ressource wahrnehmen, sondern als beseelte Partnerin, welcher wir auf Augenhöhe begegnen. Um der Stimme der Natur lauschen zu können, braucht es Achtsamkeit, Muße und Mitgefühl. Ich hatte den Eindruck, dass die Umgebung Patagoniens das Entstehen resonanter Beziehungen erleichtert und die Hektik Santiagos dies erschwert.

Patagonien – ein schwingender Resonanzraum

In Patagonien fließt das Leben in einem natürlichen Rhythmus dahin. Dies macht es möglich, innezuhalten, präsent im Moment zu sein und achtsam wahrzunehmen, was im Innen und im Außen vor sich geht. Dadurch wird der Raum geschaffen, der notwendig ist, damit wir uns auf Andere – sei es die Natur, andere Menschen oder einen Ort – einlassen können. Oder in anderen Worten, der Raum, den wir für resonante Beziehungen brauchen.

Sonnenaufgang auf dem patagonischen Meer


Wie tief verwurzelt ein natürlicher Lebensrhythmus in der patagonischen Kultur ist, zeigt sich in dem patagonischen Sprichwort "él que se apura, pierde su tiempo". Auf Deutsch übersetzt bedeutet das "wer sich beeilt, vergeudet seine Zeit". Dieser Satz spiegelt den Widerstand der Patagonier*innen gegen die Eile wider und hängt mit der Unkontrollierbarkeit des Lebens in Patagonien zusammen: Wer versucht, Ereignisse schnell zu erzwingen, wird sich bei diesem Versuch abmühen und letztendlich Zeit für erfüllende Momente verlieren. Im Umkehrschluss lädt das Sprichwort dazu ein, sich dem natürlichen Fluss des Lebens hinzugeben.

Ich konnte beide Dynamiken bei anderen Reisenden beobachten. Ein patagonisches Paar hatte Schwierigkeiten, Transportmöglichkeiten in Richtung Norden zu finden und blieb darum statt einer Nacht mehrere Tage in der Unterkunft, in der ich arbeitete. Daraus entstand Zeit zum gemeinsamen Kochen, es resultierten Momente der Gemeinschaft und ich hatte den Eindruck, dass die beiden eine bedeutungsvolle Beziehung zum Ort und seinen Menschen aufbauten. Andererseits habe ich auch frustrierte Erzählungen von Reisenden gehört, die sich über die Unzuverlässigkeit der Busse beschwerten und darüber ärgerten, dass die Fortbewegung von einem Ort zum nächsten mehr Zeit in Anspruch nahm als geplant, was ihre Reise verzögerte.

Auch ich bin von der Umgebung Patagoniens beeinflusst worden und habe meine Zeit dort als Lernprozess erlebt. In diesem musste ich meinen Wunsch nach Kontrolle, Geschwindigkeit und danach, feste Pläne zu verfolgen, immer wieder neu loslassen. Gelang mir dies, entstanden wunderschöne Momente, in denen ich mich mit mir selbst und mit meiner Umwelt verbunden gefühlt habe. Versuchte ich dann doch, schnell und weniger flexibel unterwegs zu sein, war dies unbefriedigend und erschöpfend. Dank dieser Erfahrung wurde mir einerseits klar, dass die Gewohnheit, schnell und geplant zu leben, sehr tief in mir sitzt. Anderseits habe ich erlebt, wie es sich anfühlen kann, innezuhalten, präsent zu sein und in Resonanz mit anderen Menschen, der Natur oder Orten zu kommen. Diese Momente der Resonanz habe ich als sehr wohltuend empfunden und hatte das Gefühl, aus ihnen noch für lange Zeit Energie schöpfen zu können.

 

Morgenstimmung in Coyhaique, Patagonien


Mensch-Natur Resonanz in Patagonien

Patagonien bietet nicht nur generell einen fruchtbaren Boden für das Entstehen von Resonanz, sondern fördert auch spezifisch das Entstehen von resonanten Mensch-Natur-Beziehungen. Wie ich bereits erwähnt habe, folgt das Leben in Patagonien einem natürlichen Rhythmus, und das meine ich wortwörtlich. Ob die Fähre fahrplangemäß ankommt, hängt davon ab, wie aufgewühlt das Meer ist. Es kann sein, dass das nächste Dorf tagelang nicht erreichbar ist, weil sich die Zugangsstraße im Regen in einen Fluss verwandelt. Somit greift die nichtmenschliche Natur in das Leben der Patagonier*innen ein und diese richten sich nach dem Rhythmus der Natur. Während die nichtmenschliche Natur in Santiago oft als Ressource in den Dienst der Menschen gestellt wird, scheint diese im Süden Chiles den Menschen eher gleichgestellt. Sie scheint dort mehr Agency zu haben und eine Akteurin mit Handlungsmacht zu sein.

Es kann argumentiert werden, dass die Natur auch an anderen Orten einen Einfluss auf das Leben der Menschen nimmt. Zum Beispiel kann ich mich an einige Tage im Februar 2021 erinnern, in denen in Leipzig so viel Schnee lag, dass dadurch die ganze Stadt lahmgelegt wurde. Was sich in Patagonien davon unterscheidet, ist der Umgang der Menschen mit dem Einfluss der Natur. Während an anderen Orten versucht wird, die Natur wieder unter Kontrolle zu bringen, ist der Einfluss der Natur auf das Leben der Menschen in Patagonien so omnipräsent, dass dieser einen Teil der lokalen Kultur bildet. Beispielsweise ist dort selbstverständlich, dass sich die Gestaltung eines Tages an der Jahreszeit und am Wetter orientiert.

Auf meiner Reise sind mir auch immer wieder Schilder begegnet, welche das Verhältnis der Patagonier*innen zur nichtmenschlichen Natur veranschaulichten. Auf diesen Schildern war aus der Sicht der nichtmenschlichen Natur, beispielsweise des Flusses, des Waldes oder der Erde, geschrieben und sie forderten die Menschen zu einem achtsamen Verhalten auf. An ein Schild erinnere ich mich noch besonders gut. Auf diesem Stand „Cuídame. Muchas familias beben de mis aguas. El río“ oder auf Deutsch „Schütze mich. Viele Familien trinken von meinem Wasser. Der Fluss“. Hier wurde der nichtmenschlichen Natur eine eigene Stimme verliehen und dies reflektiert für mich das Bewusstsein der Patagonier*innen für die Agentizität der Natur. 

 

Der Fluss spricht mit eigener Stimme


Abschließende Reflektion – Patagonien ist mehr als eine Resonanzoase

Bisher habe ich ein romantisches Bild Patagoniens gezeichnet und möchte dieses abschließend kritisch reflektieren. Ich habe Patagonien als eine Gegend dargestellt, in der durch Entschleunigung Resonanz ermöglicht wird. Außerdem habe ich argumentiert, dass die Menschen die nichtmenschliche Natur als gleichwertige Partnerin schätzen und dadurch resonante Beziehungen mit ihr eingehen. Ich habe mich dabei auf meine eigenen Erfahrungen gestützt und die entstehende Sichtweise ist von der privilegierten Situation geprägt, in der ich mich während meiner Reise befunden habe. Ich hatte keine Verpflichtungen aus einem Vollzeitjob und musste mir trotzdem keine finanziellen Sorgen machen. Als gebildete, weiße Europäerin wurde ich sehr respektvoll behandelt und mir wurde viel Vertrauen entgegengebracht. Ich lebte ohne Verantwortung für andere Menschen und musste mich in meinem Alltag nur um mich selbst kümmern. Statt an den Ort gebunden zu sein, war ich reisend unterwegs und konnte selbst bestimmen, wie lange ich in der Umgebung Patagoniens bleiben wollte. Diese individuellen Rahmenbedingungen ermöglichten mir, mich dem Lebensrhythmus Patagoniens hinzugeben und Momente der Resonanz zu erleben.

 

Landschaft in der Umgebung von Coyhaique


Für die Menschen, die dauerhaft in Patagonien leben, ist die Lebensrealität eine andere. Die Naturbelassenheit der Region bedeutet für sie oft einen erschwerten Alltag und viele Patagonier*innen fühlen sich vom Rest Chiles abgeschnitten und von dessen Politik vernachlässigt. Während ein Unwetter für mich lediglich eine Anpassung meiner Pläne bedeutete, kann dieses Dörfer tagelang von der Versorgung mit Lebensmitteln oder medizinischer Unterstützung abschneiden. Zudem macht die Kälte der Winter ein dauerhaftes Heizen notwendig und dies spiegelt sich in hohen Gasrechnungen wider, die für viele Patagonier*innen nur schwer bezahlbar sind. Die nichtmenschliche Natur in Patagonien wird außerdem nicht nur als gleichwertige Partnerin betrachtet, sondern auch für touristische Zwecke instrumentalisiert oder durch den Abbau von Bodenschätzen ausgebeutet. Auch diese Aspekte gehören zu Patagonien und machen deutlich, dass eine Darstellung des Ortes als Paradies für Resonanz nur einen Teil der Realität abbildet.

Dies ist auch aus der Perspektive der Resonanztheorie schlüssig. Denn Resonanz muss relational gedacht werden und weder ein Ort noch ein Mindset allein können Resonanz garantieren. Stattdessen basiert Resonanz auf einer Beziehung und "[e]twas schwingt und bringt dadurch etwas Anderes zum Schwingen". Damit wir wirklich in Verbundenheit mit der Welt leben können, ist es außerdem nicht ausreichend "Ereignisoasen" zu schaffen, in denen Resonanz punktuell entstehen soll. Stattdessen braucht es einen gesellschaftlichen Wandel, der Resonanz in das alltägliche Leben integriert – auch in den oft durch Hektik, Stress und Lärm geprägten Städten. Ich möchte mich darum mit der Idee verabschieden, dass Patagonien keine Ereignisoase ist und dies auch nicht sein soll. Nichtsdestoweniger hat mir die Umgebung Patagoniens viele Momente der Resonanz ermöglicht. Diese konnte ich auch bei anderen Menschen beobachten und dafür bin ich sehr dankbar.

 

Autorin: Maike Hering (URBNANCE wissenschaftliche Hilfskraft)


Wenn Du weitere Anmerkungen oder Fragen zum Essay hast, bist Du herzlich eingeladen, die Autorin zu kontaktieren (maikeflausioer@gmail.com).



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